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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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den Rand der Felsnadel gekrochenen Kreatur kommt, halb Skorpion und halb Hornisse. Mit einem Blick in die Tiefe stellt er fest, dass weitere Wesen nach oben klettern.
    Er hat die Hände vom Kreuz gelöst, dreht sich nach Nikolaus um und will ihn fragen, was er ihm gesagt hat. Aber dort sitzt nicht mehr der uralte Greis, sondern Anna, die Wangen trocken und die Augen groß. Hinter ihr schiebt sich ein mehrköpfiges Wesen über den Felsnadelrand, ein Geschöpf wie aus mehreren zusammengewachsenen Schlangen, und sie scheint nichts davon zu bemerken. Sebastian öffnet den Mund, um ihr eine Warnung zuzurufen, aber kein Geräusch kommt über seine Lippen, kein einziger Ton.
    »Wir müssen Vertrauen haben«, sagt Anna langsam. Sie richtet sich halb auf und hebt die Arme; ihre Fingerspitzen erreichen fast den Querbalken des Kreuzes. »Vater unser«, beginnt sie, »der du bist …«
    Es gibt keinen Gott!, rufen Sebastians Gedanken, während sein Mund schweigt. Es hat nie einen gegeben. Wir sind immer allein gewesen. Niemand hat uns geholfen.
    Wir sind allein.
     
    Nur noch ein Zentimeter oder vielleicht weniger trennte die Spitze des Dolchs von Annas Hals. Doch der Dolch schien auf ein unsichtbares Hindernis zu stoßen, das immer fester und unnachgiebiger wurde, je näher er dem Hals kam. Die lange, dünne Klinge in Sebastians Hand begann zu zittern.
    Er sah der Frau - es ist Anna, verdammt, es ist Anna! - in die Augen und beobachtete, wie sich in jedem eine Träne bildete, zwei glänzende, schimmernde Tropfen, die wie Perlen über
die Wangen rollten und dabei zwei dünne, feuchte Spuren hinterließen. Die Lippen teilten sich, als wollten sie etwas sagen.
    Vier oder fünf Millimeter waren es noch, und Sebastian stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorn, doch der Dolch kam dem Hals nicht näher. Und plötzlich verließ ihn die Gewissheit, ob er diese Frau wirklich töten wollte. Wer gab ihm das Recht, ihr das Leben zu nehmen? Warum wollte er das überhaupt?
    Er konzentrierte sich darauf, die angespannten Muskeln zu lockern, und etwas knisterte, als er den Dolch wie in Zeitlupe zurückzog. Wind flüsterte durch das Gewölbe, ein Wind, der von einem nahen Meer kam, und aus dem Geräusch wurden mahnende Worte. »Du gehörst zu uns, nicht zu ihr und den anderen Menschen!«
    »Bastian …«, hauchte Anna. Auch in ihrer Stimme glaubte er, das Rauschen des Meers zu hören, aber es stammte von einem Meer, das er kannte, an dem er oft mit Anna entlanggewandert war.
    Das Knistern wiederholte sich, und Sebastian begriff, dass es nicht vom Dolch kam.
    »Wir sind nicht mehr allein hier unten«, sagte Krystek, und es klang wie ein Knurren. »Töte die Frau! Jetzt sofort! Und dann komm mit mir …«
    Sebastian beobachtete noch immer die beiden Tränen, die inzwischen den Unterkiefer erreicht hatten. Dort verharrten sie kurz, wie unschlüssig, krochen dann in Richtung Kinn.
     
    Und dort steht er, inmitten seiner Armee, die so lange auf ihn gewartet hat, unter den Nachkommen der Ersten, die vor Jahrtausenden verbannt wurden in den dunklen Teil der Welt und jetzt zurückfordern, was ihnen
gehört. Die schwarze Masse umringt ihn, wie ein wogendes Meer, und er ruft den Seinen zu: »Holt ihn mir!«
    Bewegung gerät in die finsteren Reihen, und weitere Geschöpfe klettern und kriechen an der Felsnadel empor. Er hebt die Hände, und Sebastian sieht sie genau, seine eigenen Hände, die doch nicht ihm gehören. Es sind die Hände eines Kindes …
     
    »Töte die Frau!«, donnerte Simon Krystek, mit einer Stimme, die die Gewalt eines sturmgepeitschten Ozeans in sich trug. Sebastians rechte Hand ruckte nach vorn, aber wieder verharrte die Spitze des Dolchs vor dem Hals der Frau - vor Annas Hals -, nicht wenige Millimeter, sondern einige Zentimeter. Die Tränen, so sah er jetzt, hatten sich aufgelöst, und die Augen … Annas Blick war nicht mehr verzweifelt, sondern forschend, und vielleicht lag sogar ein Hauch Hoffnung darin.
    Das aus dem Tunnel kommende Knistern … Steine, Staub und Sand unter Stiefeln. Sebastian sah sie, ohne den Blick von Anna abzuwenden: in Kampfanzüge gekleidete Männer, die versuchten, sich möglichst leise zu nähern. Sie hatten ihre Lampen ausgeschaltet, ließen sich den Weg vom orangefarbenen Licht im Gewölbe weisen. Nur noch wenige Schritte trennten den ersten Mann von der Tunnelöffnung.
     
    Sebastian betrachtet die Hände des Kindes, dreht sie hin und her, während um ihn herum das schwarze Heer aus insektoiden

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