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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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bewegen sich, aber plötzlich hört Sebastian nichts mehr. Er …
     
    »Wir sind fast da«, sagte Simon Krystek, als sie durch die Vororte von Paris in Richtung Stadtzentrum fuhren. Der Verkehr auf den Ausfallstraßen war noch immer sehr dicht; Tausende verließen die Stadt.
    Sebastian saß auf dem Beifahrersitz, starrte in die von Straßenlaternen, Werbeflächen, Scheinwerfern und Feuern erhellte Nacht und fühlte sich elend. Das Fremde in ihm war stärker als jemals zuvor, aber seltsamerweise offenbarte es gerade dadurch Schwächen, die ein anderes Element auszunutzen versuchte. Ein innerer Kampf fand statt, dessen Auswirkungen Sebastian immer deutlicher zu spüren bekam - die Kopfschmerzen waren so heftig geworden, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Nur eins verstand er in diesen Momenten: Das fremde Ich wollte ihn daran hindern, von Nikolaus alles zu erfahren.
    Krystek hielt am Straßenrand - an einer dunklen Ecke, wie Sebastian bemerkte - und stellte den Motor ab. »Den Rest gehen wir zu Fuß.« Er öffnete die Tür und stieg aus, und Sebastian verspürte plötzlich den Wunsch, seinem Beispiel zu folgen.
Wenige Sekunden später stand er auf dem Bürgersteig, und plötzlich wurde die Übelkeit so stark, dass er zur nächsten Hauswand wankte, sich bückte und sich übergab.
     
    Es hat aufgehört zu schneien, und sie verlassen Höhle und Klamm. Vor ihnen suchen sich die Ziegen und Schafe einen Weg über den verschneiten Hang, und über ihnen weichen die Wolken der Sonne.
    »Was ist mit den Sechs?«, fragt Sebastian und hat dabei nicht mehr wie zuvor das Gefühl, in sich zu ruhen. Die Zeit drängt, auch hier, an diesem zeitlosen Ort.
    »Ich habe sie begleitet, von Erstgeborenem zu Erstgeborenem, acht Jahrhunderte lang«, erwidert Nikolaus, und es ist wieder der Mann in mittleren Jahren, nicht alt und nicht jung, der diese Antwort gibt. »Ich habe sie gesehen und gehört, ohne dass sie mich sahen oder hörten. Ich musste alles beobachten, all das Leid, die Manipulationen, immer in Furcht vor Entdeckung. Den Tod der anderen Söhne … Wie gern hätte ich ihn verhindert.« Er bleibt stehen und schaut in die Sonne; unvergossene Tränen glitzern in seinen Augen. »Aber ich durfte nichts riskieren. Gott gab mir diese eine Chance, nur diese eine.«
    »Gott?«, fragt Sebastian, und die Skepsis stammt von einem anderen Sebastian, der in Hader mit sich selbst lebte, an seinem eigenen Wesen litt.
    Plötzlich heult Wind, kalt und trocken, über eine weite Wüste, über ein ödes, ockerfarbenes Land und die hohe Felsnadel, auf der Sebastian und Nikolaus sitzen. Viel Platz bietet sie nicht, nur einige wenige Quadratmeter, und so stark weht der Wind, dass sie sich an dem zwischen ihnen aufragenden verwitterten Holzkreuz festhalten müssen, um von den Böen nicht in die Tiefe gerissen zu werden.
    »Ohne Ihn wären wir verloren!«, ruft Nikolaus.
    Sebastian blickt an dem Holzkreuz empor und weiß, dass es ein Symbol für Nikolaus’ Hoffnung ist, doch für einen Sekundenbruchteil glaubt
er, eine Gestalt dort zu sehen, durch deren Hände und Füße Nägel geschlagen sind. Blut rinnt aus einer Wunde in der Seite, und mit sonderbarer Klarheit beobachtet er, wie sich ein roter Tropfen daraus löst und auf den felsigen Boden fällt …
     
    Sebastian würgte, bis sein Magen nichts mehr hergab, und Anna hielt ihn, flüsterte und rief Dinge, die er nicht verstand. Ein Hubschrauber donnerte dicht über die Häuser hinweg, und wenige Sekunden später raste ein Streifenwagen mit heulender Sirene auf der Straße vorbei, gefolgt von mehreren Ambulanzen, aber Sebastian hörte noch immer das Zischen und Fauchen des Winds, der ihn von der Felsnadel zu reißen versuchte. Er spuckte und würgte, und von seiner Lippe fiel ein Tropfen Blut, rot wie Rubin.
     
    »Hast du dich nicht gefragt, wieso du noch du selbst bist?«, fragt Nikolaus. Er sitzt neben dem Kreuz auf der Felsnadel, und sein Blick reicht über das Ödland hinweg in die Ferne. Eine große Staubwolke wächst am Horizont, aufgewirbelt von einer dunklen Masse, die langsam näher kommt.
    »Ich selbst?«, wiederholt Sebastian und erinnert sich daran, dass ihm solche Gedanken durch den Kopf gegangen sind.
    »Krystek und die anderen …«, sagt Nikolaus. »Sie sind keine Menschen mehr und längst ganz zu Nephilim geworden. Aber du … Dem fremden Geschöpf in dir ist es noch nicht gelungen, dich ganz unter seine Kontrolle zu bringen. Und dass wir hier miteinander sprechen

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