Äon - Roman
schlechter Gott. Wir haben also die Wahl zwischen: Es gibt keinen Gott, oder es gibt einen, aber er macht sich über uns lustig.«
Eine Zeit lang standen Priester und Atheist nebeneinander und sahen stumm zum Kreuz hoch.
»Sie wissen bereits, dass auch ich gezweifelt habe«, sagte Don Vincenzo. »Es gibt tatsächlich viel Unrecht auf dieser Welt, Signor Vogler, und auch die Kirche hat Schuld auf sich geladen. Ich habe mich oft gefragt: Warum lässt Gott das alles zu? Warum greift Er nicht ein? Warum verhindert Er all das Leid nicht mit Seinem göttlichen Willen?«
Sebastian sah erneut zur Seite. »Und wie lauten Ihre Antworten?« Er lachte leise und humorlos. »Ich wette, Sie haben sich gesagt, dass er uns auf die Probe stellt. Das ist die übliche Pfaffenlogik.«
»Ich glaube, die richtige Antwort lautet: Freiheit. Wie würde uns ein Interventionsgott gefallen, eine hohe Macht, die ständig auf der Erde aktiv wird und die Dinge so lenkt, wie sie es für richtig hält? Wie lange würde es dauern, bis jemand von Diktatur spricht?«
»Wollen Sie damit sagen, wir hätten einen demokratischen Gott?«
»Das sind menschliche Begriffe, von Menschen für Menschen geschaffen. Gott gewährt uns Freiheit, und dazu gehört auch die Freiheit, falsche Wege einzuschlagen und Böses zu tun.«
»Großartig!« Sebastian schnaufte abfällig. »Aus dem strengen Übervater wird ein gleichgültiger Zuschauer. Was sollen wir mit einem Gott anfangen, der uns mit unserem Leid alleinlässt?«
Wieder herrschte einige Sekunden Stille, und dann fragte Don Vincenzo: »Wenn Sie nicht an Gott glauben … Warum sind Sie dann hierhergekommen? Warum stehen Sie dann hier, vor dem Kreuz, an dem Sein Sohn starb?«
»Vielleicht habe ich nur einen Ort gesucht, wo ich mit meinen Gedanken allein sein kann.«
»Einen Ort der Besinnung.« Der alte Priester nickte. »Ich verstehe.«
»Glauben Sie?«
»Ich denke schon. Sie klingen verbittert, Signor Vogler. Was ist geschehen?«
»Heute ist mir einmal mehr vor Augen geführt worden, wie scheußlich die Welt ist.«
»Meinen Sie die Welt oder Ihr Leben?«
Die Frage überraschte Sebastian, und je länger er über sie nachdachte, desto mehr ungeahnte, unangenehme Tiefen zeigte sie ihm.
»Sind Sie bei Ihrer Frau gewesen?«
»Anna ist nicht mehr meine Frau.«
Der Priester neben Sebastian trug schwarze Kleidung, und
aus dem Augenwinkel gesehen wirkte er fast wie ein Schemen inmitten der Schatten. »Bis zur Scheidung bleibt sie Ihre Ehefrau, Signor Vogler. Die dreijährige Trennungsfrist soll Ihnen beiden Gelegenheit geben, wieder zueinanderzufinden.«
»Wenn es nach dem Klerus ginge, gäbe es diese Frist gar nicht«, sagte Sebastian. »Bis vor einigen Jahrzehnten konnte man sich in diesem Land überhaupt nicht scheiden lassen. Das muss man sich mal vorstellen. Ein Ja und dann lebenslänglich, gepriesen sei der Vatikan.«
Don Vincenzo ging nicht darauf ein. »Wie geht es Dottoressa Ranzani?«
»Oh, ihr geht es gut.«
Der Priester sah ihn an. »Und Sie, Signor Vogler? Wie geht es Ihnen?«
Vielleicht war er deshalb hierhergekommen, dachte Sebastian. Um zu beichten, um sich jemandem anzuvertrauen, seinen Schrecken mit jemandem zu teilen.
»Man hat bei mir einen Hirntumor diagnostiziert. Wenn ich mich nicht sofort operieren lasse, bleiben mir nur noch wenige Wochen. Und die Operation ist gefährlich.«
Die Stille in der Kirche kroch heran, schob sich an Sebastian empor und legte sich ihm wie eine Schlinge um den Hals. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, vielleicht einige Worte des Mitleids, aber nicht dies: dunkle Lautlosigkeit.
Fast eine Minute verstrich, und dann ergriff ihn Don Vincenzo am Arm. »Kommen Sie, Signor Vogler.«
»Wohin gehen wir?«
»Zu Raffaele.«
15
Hamburg
N ach seinem Gespräch mit dem Chefredakteur von Zack! hatte Alexander Torensen keine halbe Stunde warten müssen, bis Angela kam und ihm mitteilte, dass der Chef ihn zu sprechen wünschte. Jetzt saß er in Lechleitners Büro im obersten Stock des Präsidiums und musterte den Mann auf der anderen Seite des Tisches: Mitte vierzig, gekleidet in einen guten, aber nicht zu teuren dunkelgrauen Anzug, die Krawatte orangefarben und gerade, das Haar dunkel mit einigen grauen Strähnen, das Gesicht schmal und perfekt rasiert. Die Augen … Ihr kühler Blick war nicht in dem Sinne unangenehm, aber er schien tiefer zu reichen, als dem Kommissar lieb war. Der Mann strahlte Kompetenz aus, und er war zweifellos sehr
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