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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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kurzärmelige Hemd, das ein wenig nach Schweiß roch. Es war das gleiche Hemd, das er in Drisiano getragen hatte. Als er das Zimmer verlassen wollte, trat Anna auf ihn zu. »Ich bring’ dich zu mir, Bastian.«
    »Nein, ich …«
    »Dein Wagen steht noch dort.«
    Daran hatte Sebastian überhaupt nicht gedacht. Er nickte. »Na schön.«
    Er achtete nicht auf den chaotischen Verkehr in der Stadt.
Stumm blickte er hinaus in eine Welt, die er bald verlassen musste. Wie seltsam der Gedanke, dass es sie auch dann noch geben würde, wenn er nicht mehr existierte. Es fühlte sich irgendwie … ungerecht an.
    »Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst«, sagte Anna, als sie Reggio Calabria verließen.
    »Bist du sicher?«, erwiderte er nicht ohne einen gewissen Spott.
    »Ich denke schon. Du bist nicht der erste Krebspatient, mit dem ich es zu tun bekomme. Du bist desorientiert und verwirrt. Du fühlst dich so, als hätte dir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Und natürlich hast du Angst.«
    »Angst?«, wiederholte Sebastian und horchte in sich hinein. Tief in ihm gab es eine Leere, die sich vielleicht erst noch mit Angst füllen musste. Derzeit fühlte er sich vor allem wie gelähmt.
    »Nimm das hier.« Anna reichte ihm zwei längliche Schachteln. Eine enthielt starke Kopfschmerztabletten. Sebastian schüttelte die andere und sah Anna fragend an.
    »Rasch wirkende Psychopharmaka«, sagte sie. »Sie sorgen dafür, dass du dich besser fühlst. Aber setz dich nicht ans Steuer, wenn du eine der Tabletten genommen hast.«
    Als sie ihr Haus erreichten, sagte Anna: »Du kannst bei mir übernachten, wenn du möchtest.«
    Sebastian sah zum Meer und fragte sich, wie oft er es noch sehen konnte. »Nein«, sagte er. Der Gedanke an Sex übte nicht den geringsten Reiz auf ihn aus; er wollte nur allein sein. »Ich … muss meine Gedanken ordnen.«
    »Bitte komm morgen zu mir, ja?« Anna beugte sich zur Seite und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ja?«

    »In Ordnung.«
    Als Sebastian in seinem Leihwagen saß, hatte er für einige Sekunden das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Dann startete er den Motor, setzte zurück und fuhr los. Im Rückspiegel sah er, wie Anna ihm nachwinkte.
     
    Als Sebastian die Autobahn erreichte, konnte er sich kaum mehr auf den Verkehr konzentrieren. Inzwischen war es dunkel geworden. Das Scheinwerferlicht der anderen Wagen erschien ihm viel zu hell und blendete manchmal so sehr, dass er kaum mehr die Fahrbahn sah. Außerdem pochte es wieder schmerzhaft hinter seiner Stirn. Er steuerte den Wagen in die nächste Haltebucht, ließ den Motor aber laufen. Er legte die Arme aufs Lenkrad, stützte den Kopf darauf und schloss die Augen.
    Der Tod wucherte in ihm, zwischen seinen Schläfen - die verdammten Kopfschmerzen kündigten ihn seit Monaten an. Er hatte sie für ein Resultat von Stress und Anspannung gehalten und geglaubt, dass sie irgendwann aufhörten.
    Nach einigen Sekunden lehnte er sich zurück, öffnete die Schachtel mit den Schmerztabletten und schluckte eine, ohne mit Wasser nachzuspülen. Dazu war Anna nie fähig gewesen, erinnerte er sich. Sie hatte immer ein halbes Glas Wasser trinken müssen.
    Eine Zeit lang beobachtete er den Verkehr. Lichter, die in der Dunkelheit dahinzogen, dahinter anonyme Leben, erfüllt von Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen. All jene Menschen konnten Pläne schmieden und sich von der Zukunft Besseres erhoffen, wenn die Gegenwart sie enttäuschte. Diese Möglichkeit gab es für Sebastian nicht mehr. Wenn er in die Zukunft blickte, sah er nur dunkle Leere.

    »Ruhig, Junge«, sagte er, als Panik in ihm aufstieg. »Ganz ruhig. Bleib cool.« Anna und ihr Kollege hatten es ihm fast eine Stunde lang erklärt. Der Tumor saß an einer schwer zugänglichen Stelle, aber solche Operationen ließen sich durchführen, mit einer Erfolgsquote, die zwischen siebzig und achtzig Prozent lag. Das klang gut, aber für Sebastian bedeutete es, dass eine Wahrscheinlichkeit von bis zu dreißig Prozent dafür bestand, dass er die Sache nicht überlebte. Außerdem ließen sich sogenannte Kollateralschäden nicht völlig ausschließen. Mit anderen Worten: Bei der Entfernung des Tumors konnte es zu Hirnschäden kommen, mit unabsehbaren Konsequenzen - vielleicht wachte er als Idiot wieder auf oder mit motorischen Störungen.
    Bei der Vorstellung, wie ihm der halbe Schädel aufgesägt wurde - er glaubte, das Heulen der Säge zu hören -, wurde ihm speiübel. Er öffnete die Tür,

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