Äon - Roman
beugte sich zur Seite und würgte, übergab sich aber nicht.
Sebastian zog die Tür wieder zu und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er brauchte ein Bier, dringend. Und nicht nur eins.
Als er sich bereitmachte, die Fahrt fortzusetzen, spürte er das Handy in der Hosentasche, holte es hervor und schaltete es ein. Eine Zeit lang starrte er auf das Display, ohne es wirklich zu sehen, dann erkannte er, dass mehrere Personen versucht hatten, ihn zu erreichen, unter ihnen Wolfgang Kessler. Er bewegte sich wie von einer Automatik gesteuert, als er die Wähltaste drückte und das Handy ans Ohr hob.
Es klingelte mehrmals, und dann erklang Wolfgangs Stimme.
»Hallo, Bastian. Ich habe mehrmals angerufen.« Nach einer kurzen Pause: »Bastian? Bist du da?«
»Ja.«
»Es hat sich was Neues ergeben.«
Sebastian versuchte, sich zu konzentrieren. Im Hintergrund hörte er andere Stimmen, und die Verbindung war nicht besonders gut.
»Die sonderbaren Fälle mit starken selbstzerstörerischen Elementen und auch die jüngsten Fast- und Ganzkatastrophen wie die Explosion der Bohrinsel bei den Shetlandinseln … Die betreffenden Personen sind alle im letzten Jahr in Italien gewesen. In Kalabrien. Ich maile dir die Namen. Du bist vor Ort. Finde mehr heraus, okay? Hast du verstanden? Bastian?«
»Ja«, sagte er. »Ja, ich habe verstanden.«
»Du klingst irgendwie seltsam. Stimmt was nicht?«
»Ich …« Sebastian räusperte sich. »Es … ist alles in Ordnung.«
»Ich muss jetzt Schluss machen. Schau in dein elektronisches Postfach. Ich rufe dich morgen an.«
»Morgen, ja«, sagte Sebastian matt, ließ das Handy sinken und schaltete es aus.
Der Motor des Wagens lief noch immer, brummte ruhig vor sich hin. Sebastian ordnete seine Gedanken, legte den ersten Gang ein, sah in den Rückspiegel und gab Gas. Aber er fuhr nicht zu seinem Hotel zurück, sondern nach Drisiano.
Es war still und dunkel in der kleinen Kirche. Im Schein der Kerzen und einiger weniger Lampen ging Sebastian an den leeren Sitzbänken vorbei. Dort saßen bei den Messen Gläubige oder Verzweifelte, für die es keinen anderen Ort der Hoffnung gab, überwiegend alte Leute, die das Ende ihres Lebens
nahe sahen. Die Furcht vor dem Tod war es, die die meisten Menschen in Kirchen und Tempel trieb, davon war Sebastian immer überzeugt gewesen. Und darin lag die Macht der Kirche und der Kirchen: Sie basierte auf der Angst der Menschen vor dem Ende. Pfarrer, Priester, Kleriker aller Art, sie versprachen den Verzweifelten, dass der Tod nicht das Ende wäre, und indem sie diese Hoffnung vermittelten, bekamen sie Einfluss, nicht auf das Leben nach dem Tod, sondern auf das Hier und Heute. Als überzeugte Katholikin hatte Anna das natürlich anders gesehen, und manchmal hatten sie recht hitzig darüber diskutiert. Umso deutlicher spürte Sebastian, wie sich jetzt seine Perspektive verschob. Er verstand plötzlich die Verzweiflung, die selbst jemanden, der sein ganzes Leben lang nicht an Gott geglaubt hatte, in die Kirche treiben konnte. Wenn das Ende drohte, wenn man sich der unausweichlichen Tatsache der eigenen Sterblichkeit stellen musste … Dann streckte selbst der Atheist die Hand nach dem Kreuz aus.
Sebastian blieb vor dem Altar stehen, umgeben von Schatten, und sah zum Christus am Kreuz empor. Anna hatte ihm bei einem ihrer Gespräche den Rat gegeben, Gott zu vertrauen, obwohl sie seine Einstellung eigentlich kennen sollte. Wenn man sich ihre religiöse Logik zu eigen machte, so ging letztendlich alles auf Gott zurück, auch die tickende Zeitbombe hinter seiner Stirn. Und wenn das stimmte … Wie sollte er einem Gott vertrauen, dem er einen Gehirntumor verdankte?
»Wenn es dich gibt …«, sagte er leise und mit Blick zum Kreuz. »Jetzt hast du Gelegenheit, mich von deiner Existenz zu überzeugen.«
Sebastian hörte den Spott in seinen eigenen Worten, aber er ertappte sich auch dabei, dass er trotz allem hoffte.
»So einfach ist das nicht, Signor Vogler«, sagte jemand in seiner Nähe. Er drehte den Kopf und erkannte den alten Priester, Don Vincenzo. »Sie müssen selbst den Weg zu Ihm finden.«
»O ja, natürlich. Warum sollte er es uns auch einfach machen, nicht wahr?«
»Sie glauben nicht an Gott?«
»Nein«, sagte Sebastian, aber er zögerte einen Sekundenbruchteil, als befürchtete er, sich mit seiner Antwort eine letzte Chance zu nehmen. »In seinem Namen ist viel Unrecht geschehen. Wenn es ihn gibt, so hat er all das zugelassen und ist ein
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