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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Bewegung und versuchten, die einzelnen Stücke des Puzzles zusammenzusetzen. Schließlich merkte er, dass er nach wie vor sein Handy in der Hand hielt. Er wählte Sebastians Nummer und hob es ans Ohr.
    Es klingelte mehrmals, und schließlich meldete sich der Anrufbeantworter. Torensen unterbrach die Verbindung, steckte das Handy ein und beschloss, es später am Abend noch einmal zu versuchen. Er holte seine Aktentasche hervor, schob Mehrendorfs Mappe und einige Daten-DVDs hinein. Dann stand er auf, zog den Speicherstick vom USB-Port des PCs - sein externes Gedächtnis, wie er ihn manchmal nannte - und steckte ihn in die Innentasche der Jacke. Er wollte die Arbeit zu Hause fortsetzen, allein und ungestört. Vielleicht gelang es ihm, einige Puzzlestücke so zusammenzusetzen, dass sich zumindest ein Teilbild ergab.

16
    Drisiano
    G esang kam vom Zeltlager beim Parkplatz unterhalb des Ortes. Vor der Kirche von Drisiano brannten Lampen, aber als Sebastian dem Priester durch die Gassen folgte, wurde es schnell dunkel. Von den Bewohnern des Dorfes war um diese Zeit kaum jemand unterwegs. Sebastian hörte Gesprächsfetzen aus offenen Fenstern und Stimmen aus Fernsehgeräten.
    Beim Gemeindehaus hielten Laternen die Schatten der Nacht zurück. Weiter hinten ragten Baumaschinen und Gerüste in der Dunkelheit empor, wie die Umrisse von Ungeheuern.
    Sebastian nahm seine Umgebung sehr deutlich wahr - die Alte, die sich dort neugierig aus dem Fenster beugte, sich bekreuzigte und grüßte, als sie Don Vincenzo erkannte; von Wänden bröckelnder Putz; ein Ball, der verwaist neben einer Mauer lag; die Sterne am wolkenlosen Himmel -, aber er fühlte sich von ihr getrennt, mehr Beobachter als Akteur. Er wusste: Die Dinge, die jetzt geschehen würden, betrafen direkt ihn, doch innerlich wahrte er Abstand und ließ nicht zu, dass ihn die Ereignisse berührten.
    Der Priester führte ihn ins Gemeindehaus, und dort blieb Sebastian neben einem großen Kruzifix an der Wand stehen. Er betrachtete es, als Don Vincenzo durch den Flur eilte, um
Raffaele zu holen, und je länger sein Blick darauf verweilte, desto mehr Details sah er: kleine Risse im braunschwarzen Holz des Kreuzes, die Andeutung von Maserung, der hagere Leib von Jesus Christus, seine blutigen Wunden. Der Kopf neigte sich unter dem Gewicht der Dornenkrone zur Seite. Sebastian blinzelte, und im gleichen Augenblick hob der Gekreuzigte die Lider und sah ihn an.
    »Signor Vogler?«
    Er blickte zur Seite. Don Vincenzo war zurückgekehrt und stand neben ihm, begleitet von Raffaele. Der Junge sah ihn seltsam an, und Sebastian klappte den Mund auf, um zu sagen, dass Jesus ihn vom Kreuz angesehen hatte.
    Es kann schon bald zu Halluzinationen kommen, erinnerte er sich an Annas Worte in der Klinik. Die Operation ist der einzige Ausweg .
    Der alte Priester fragte nicht, wie es ihm ging. Er musterte Sebastian besorgt. »Ich schlage vor, wir gehen ins Andachtszimmer.«
    Das Andachtszimmer war ein kleiner, schlichter Raum mit mehreren Sitzbänken; vorn stand ein Pult aus hellem Holz. An der Wand dahinter hing ein großes Kreuz, ohne eine Christusfigur. Links neben dem Fenster brannten Kerzen, und ihr Licht flackerte über einige kleine Heiligenbilder.
    Sie gingen zur vordersten Sitzreihe. Dort bekreuzigten sich Don Vincenzo und der Junge, bevor sie Platz nahmen. Raffaele hätte wie ein ganz gewöhnlicher Junge gewirkt - er trug Jeans, seine Nike-Sportschuhe und ein T-Shirt in den Milan-Farben -, wenn nicht seine Augen gewesen wären. Groß und dunkel sahen sie Sebastian mit dem Ernst eines Erwachsenen an. Sie passten nicht in das zarte, kindliche Gesicht. Es waren
Augen, die den Eindruck erweckten, viel mehr gesehen zu haben, als es einem neunjährigen Jungen möglich sein sollte. Und wie er dasaß: still, erstarrt, ganz Aufmerksamkeit.
    »Das ist Signor Vogler«, sagte Don Vincenzo freundlich. »Er kommt aus Deutschland, und es geht ihm sehr schlecht. Er hat einen Hirntumor und muss in ein paar Wochen sterben, wenn er nicht operiert wird.«
    »Glauben Sie an Gott, Signor Vogler?«, fragte der Junge ruhig.
    »Bitte nenn mich Sebastian.« Er rang sich ein Lächeln ab und spürte, wie die Distanz zu dem Jungen schrumpfte, während er auch weiterhin von allem anderen getrennt blieb. »Nein, ich glaube nicht an Gott.«
    »Warum nicht?«, fragte der Junge und faltete die Hände im Schoß. Das war seine einzige Bewegung; alles andere blieb reglos.
    »Vielleicht … hat er mich noch nicht davon

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