Äon - Roman
Dunkelheit.
Sebastian erwachte spät in der Nacht. Eine Zeit lang blieb er im Bett liegen und lauschte der Stille. Er hatte die Vorhänge nur halb zugezogen, und die Terrassentür stand einen Spaltbreit offen. Etwas Licht kam von den Lampen vor dem Hotel, fiel durch die Gardinen und bildete ein Streifenmuster an der Decke.
Noch immer fühlte er tiefe Ruhe in sich, ein sehr angenehmes inneres Gleichgewicht. An diesem Abend war er sogar ohne Alkohol eingeschlafen, zum ersten Mal seit Monaten.
Nach einer Weile schlug er das Laken zurück, stand auf, ging ins Bad und schaltete dort das Licht ein. Das Gesicht im Spiegel wirkte vertraut, und doch gab es darin etwas, das anders war als noch einen Tag zuvor. Die Wangen hatten etwas mehr Farbe, die graublauen Augen mehr Glanz. Das aschblonde Haar war in den vergangenen Wochen ein wenig zu lang geworden und musste geschnitten werden. Sebastian strich es
zurück, drehte den Kopf erst nach links und dann nach rechts. »Du siehst besser aus, mein Junge«, sagte er leise. War er wirklich geheilt? Er hob die Hände zu den Schläfen, als könnte er dort fühlen, ob der Tumor noch existierte oder nicht. Morgen bei Anna in der Klinik würde er Gewissheit erhalten.
Sebastian drehte sich um und schaltete das Licht im Bad aus, blieb aber in der Tür stehen. Was hatte ihn geweckt? Sein Schlaf war tief und fest gewesen, doch irgendetwas hatte ihn wach werden lassen.
Etwas von dem Licht, das durch die Terrassentür kam, erreichte das Bad, und als Sebastian den Kopf drehte, starrte ihn aus dem Spiegel ein anderes Gesicht an. Er blinzelte verblüfft, doch als er genauer hinsah, zeigte der Spiegel nur ihn selbst.
17
Hamburg
D ie Klänge von Tschaikowskys 6. Sinfonie kamen hinter Alexander Torensen aus den Lautsprechern der alten Hi-Fi-Anlage, als er sein Handy ans Ohr hob. Diesmal meldete sich sofort der Anrufbeantworter. Er unterbrach die Verbindung nicht und wartete, bis ihn die Stimme aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. »Hallo, Sebastian, ich bin’s, Alexander. Es geht um eine wichtige Sache. Bitte ruf so bald wie möglich zurück.« Er drückte die rote Taste, legte das Handy beiseite und sah wieder auf den Computermonitor, der ihm Namen und Bilder von »Kontaminierten« zeigte, wie der BND-Mann sie nannte. Mithilfe der Informationen aus den Interpol-Datenbanken hatte er versucht, den Weg der »Schlüsselpersonen« Simon Krystek, Dario Deveny und Yvonne Jacek zurückzuverfolgen, aber sehr weit war er dabei bisher nicht gekommen. Anstatt Antworten zu finden, ergaben sich neue Fragen, und eine von ihnen lautete: Warum brachten Krystek, Deveny und Jacek andere Leute um, die wie sie irgendwann im Verlauf des letzten Jahrs in Drisiano gewesen waren?
Er starrte auf den Monitor, bis seine Augen brannten und die Buchstaben verschwammen, lehnte sich dann zurück, senkte die Lider und versuchte, sich ganz auf die Musik zu
konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Schuld daran war ein Unbehagen, das ihn seit dem Gespräch mit Roland Singerer begleitete.
Der BND-Mann gab sich professionell, freundlich und sehr umgänglich, aber davon ließ sich Torensen nicht so leicht täuschen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass Singerer ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Welche Gründe konnte es dafür geben? Persönlicher Ehrgeiz? Die Absicht, die Lorbeeren für einen Erfolg mit niemandem zu teilen? So etwas kam häufig genug vor, aber ein solcher Egoismus schien nicht zu Singerer zu passen. Eine andere Erklärung lautete: Der BND-Mann hielt ihn schlicht für unmaßgeblich. Torensen und alle anderen Beamten des Präsidiums, selbst Mister Big Boss Lechleitner - sie alle waren für Singerer nichts weiter als Werkzeuge.
»Oder spricht hier mein verletztes Ego?«, fragte sich Torensen leise, die Augen noch immer geschlossen. Vielleicht ärgerte es ihn mehr, als er sich selbst gegenüber zugab, dass man ihm jemanden vor die Nase gesetzt hatte.
Er hob die Lider, blickte wieder auf den Computerschirm und dachte an Drisiano im fernen Kalabrien. All jene Menschen waren irgendwann im Verlauf der vergangenen zwölf Monate dort gewesen und hatten einen neunjährigen Jungen besucht, der offenbar zu Wunderheilungen fähig war. Lag dort die Ursache für den Wahnsinn und das vergossene Blut? Oder war es eine falsche Spur, zwar ein gemeinsames Element, aber eins, das keine entscheidende Rolle spielte?
Torensens Gedanken kehrten zu Singerer zurück, und erneut fragte er
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