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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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überzeugt, dass es ihn gibt.«
    »Sie haben die Menschen gesehen, die zu mir kamen, um geheilt zu werden, nicht wahr?«
    Sebastian nickte.
    »Sie empfingen Gottes Gnade«, sagte der Junge mit dem Blick und der Stimme eines Erwachsenen. »Die Lahmen konnten wieder gehen und die Blinden sehen.«
    »Ja, ich habe es beobachtet.«
    »Und trotzdem glauben Sie nicht an Gott?«
    »Manche Menschen … verfügen über besondere Fähigkeiten.«
    Raffaele stand auf und trat vor Sebastian. »Ich zeige Ihnen, dass es Gott gibt.«

    Als ihn die Fingerkuppen des Jungen an den Schläfen berührten, schienen ihn plötzlich Kilometer von Don Vincenzo und der übrigen externen Welt zu trennen. Nur Raffaele war bei ihm, und Sebastian sah sein Spiegelbild in den Augen des Jungen: ein Gesicht, das erst Verblüffung zeigte, bevor sich dann Ruhe in ihm ausbreitete. Es war fast wie im Rausch. Spannungen lösten sich auf, aber nicht im Vergessen des Alkohols, sondern in einer Gelassenheit, die alles in ihm ausbalancierte.
    Die Lippen des Jungen bewegten sich. In der Kirche hatte Sebastian die Worte nicht verstanden, aber jetzt hörte er sie ganz deutlich. Raffaele sprach ein Gebet und schenkte ihm Gottes Segen, doch zwischen den einzelnen Worten hörte Sebastian auch noch etwas anderes, Silben und Wortfragmente von Stimmen, die etwas weiter entfernt waren und ebenfalls zu ihm sprachen. An seinem inneren Auge zogen Bilder vorbei, so schnell, dass er sie nicht voneinander trennen und keine Einzelheiten erkennen konnte. Einmal gewann er den Eindruck, ein anderes Gesicht zu sehen, schmal und ausgezehrt, das Gesicht eines Jungen in Raffaeles Alter, ebenfalls mit großen Augen. Sie schienen heller zu sein und blickten nicht ruhig, sondern fast flehentlich. Auch bei diesem Jungen bewegten sich die Lippen, aber Sebastian verstand nicht, was er sagte.
    Durch die Schmerztablette, die er noch im Wagen genommen hatte, war das stechende Pochen hinter seiner Stirn zu einem dumpfen Druck geworden, der sich jetzt plötzlich auflöste. Zum ersten Mal seit Monaten war Sebastian völlig schmerzfrei, und er glaubte fast, auf einer Wolke des Wohlbehagens zu schweben. Er blinzelte und öffnete den Mund, aber Raffaele schüttelte den Kopf.

    »Sprich nicht«, sagte er und ging damit zum Du über. »Höre und fühle nur.«
    Sebastian saß auf der vordersten Bank im Andachtszimmer, der Junge stand dicht vor ihm, doch gleichzeitig befand er sich an einem anderen Ort. Der Analytiker in ihm überlegte, ob sich sein aktuelles Empfinden mit dem eines Nahtod-Erlebnisses vergleichen ließ. Irgendwo in der Nähe erstrahlte helles Licht, ohne ihn zu blenden. Es zog ihn an, und als er näher kam, zeichnete sich in dem Licht eine Gestalt ab, die ihm wie als Willkommensgruß die Arme entgegenstreckte. Das Gefühl von Erhabenheit , das ihn in der Kirche kurz gestreift hatte, verdichtete sich, und er nahm es mit jedem Atemzug tiefer in sich auf.
    Raffaele ließ die Hände von Sebastians Schläfen sinken und nickte zufrieden. Kerzenschein flackerte in seinen Augen. »Du hast Ihn gefühlt und gesehen«, sagte der Junge leise. »Und du hast Seinen Segen empfangen. Du bist gesund.«
    Raffaele wich zurück, und Sebastian stand auf, leicht wie eine Feder. Er machte einen vorsichtigen Schritt, musste erst wieder ein Gefühl für den eigenen Körper bekommen. Don Vincenzo erhob sich ebenfalls und legte Raffaele stolz die Hand auf die Schulter.
    »Ich bin … überwältigt«, sagte Sebastian.
    Der Priester lächelte. »Es ist spät geworden«, sagte er, und mit einem Blick auf die Uhr stellte Sebastian fest, dass eine ganze Stunde vergangen war. »Kommen Sie morgen wieder, Signor Vogler. Dann sprechen wir über alles.«
    Sie verließen den Andachtsraum und gingen durch den Flur. Sebastian setzte fast wie in Trance einen Fuß vor den anderen, und als er durch die Tür nach draußen trat, zögerte er
und drehte sich um. Raffaele war bereits fort. »Ich wollte ihm danken …«
    Don Vincenzo lächelte erneut. »Das können Sie morgen. Denken Sie darüber nach, was er Ihnen gezeigt hat.«
    »Ja«, sagte Sebastian. »Ja … bis morgen.«
    Er ging durch den stillen Ort, und als er die Treppe am Rand von Drisiano erreichte, blieb er noch einmal stehen und sah zurück. Im Schatten einer der Gassen zeigte sich die Gestalt eines Kinds.
    »Raffaele?«, fragte Sebastian erstaunt.
    Er trat einen Schritt auf die kleine Gestalt zu, aber die drehte sich wortlos um, eilte fort und verschwand in der

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