Äon - Roman
Marseille und die entführte Französin meinte, sondern die Islamisten. Sie alle hatten gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sich Terrorgruppen aus dem Dunstkreis von Al Kaida für das zu interessieren begannen, was man in der nationalen Einsatzzentrale in Berlin »Kontaminationen« nannte. Die vielen Fälle von destruktivem Wahnsinn, die allein den Westen betrafen, konnten in der Welt der fanatischen Muslime nicht lange
unbemerkt bleiben. Früher oder später musste bei den Gegnern der modernen Zivilisation jemand auf die Idee kommen, dass sich diese Vorkommnisse vielleicht als Waffe verwenden ließen.
Singerer blickte wieder auf das Blatt Papier und las, was er bisher geschrieben hatte. Dann nahm er erneut den Kugelschreiber. Ein einzelner Junge soll hinter alldem stecken? Wie? Warum?
Er unterstrich das Wie einmal und das nächste Wort zweimal.
»In Ordnung, Leute«, sagte er schließlich und traf eine Entscheidung. »Wir konzentrieren uns auf die Schlüsselpersonen, auf jene Leute, die in Drisiano gewesen sind und andere Männer und Frauen umbringen, die den Jungen besucht haben. Etwas sagt mir, dass es außer Krystek, Deveny und Jacek noch andere gibt. Findet sie, aber vergeudet nicht unsere Kräfte. Die übrigen Fälle überlassen wir der Kripo, die uns ohnehin auf dem Laufenden hält. Die Namenslisten sollten uns ein ganzes Stück weiterhelfen. Lasst alle Personen überprüfen, die in Drisiano gewesen sind. Ärzte sollen sie unter irgendeinem Vorwand untersuchen. Ich möchte wissen, was mit ihnen los ist und ob die Möglichkeit besteht, dass sie wie die anderen plötzlich überschnappen.«
»Was machen wir, wenn sich dabei Anzeichen von Labilität ergeben?«
Es erstaunte Singerer ein wenig, dass diese Frage ausgerechnet vom kühlen Henry kam, der als großer Schweiger galt und sich selbst beim Brainstorming zurückhielt. »Quarantäne«, sagte er sofort. »Es werden die für einen medizinischen Notfall vorgesehenen Maßnahmen ergriffen. Wer weiß? Vielleicht ist es sogar möglich, ein Gegenmittel zu finden.«
»Ein Gegenmittel wogegen?«, fragte Hanna.
Singerer nickte. »Ich wünschte, ich wüsste die Antwort darauf. Die medizinischen Untersuchungen könnten uns auch in dieser Hinsicht weiterbringen. Wir müssen herausfinden, was die Betroffenen in den Wahnsinn treibt. Wie dem auch sei: Mich interessieren vor allem die Schlüsselpersonen. Irgendwo versteckt sich ein Zusammenhang in dieser ganzen Angelegenheit, und ich bin ziemlich sicher, dass Leute wie Krystek, Deveny und Jacek darüber Bescheid wissen. Was gäbe ich dafür, einen von ihnen verhören zu können …«
»Sie sind wie vom Erdboden verschluckt«, sagte Patric, der wie Henry zu den Stillen unter Singerers Assistenten zählte. Von den Männern hatte er das längste Haar: Die dunkle Mähne reichte ihm bis auf die Schultern.
»Gestern war eine von ihnen in Hamburg«, sagte Irene, die ihr blondes Haar in der Art von Julia Timoschenko trug. »Gestern Abend hat Yvonne Jacek Kommissar Alexander Torensen umgebracht.«
»Das wissen wir nicht genau«, warf Thorwald ein.
»Was ist mit dem Bericht der forensischen Spezialisten?«, fragte Singerer. »Gibt es Fingerabdrücke?«
»Keine von Yvonne«, antwortete Rolf. »Einige von › Mozart ‹ .«
Singerer schüttelte den Kopf. »Kessler ist nicht der Mörder. Und er hat eine Frau gesehen.«
»Behauptet er.«
»Ich glaube ihm«, sagte Singerer. »Wie dem auch sei: Lassen Sie ihn überwachen. Ich möchte wissen, mit wem er spricht und mit wem er sich trifft.«
»Ich nehme an, Sie meinen nicht nur die Telefone der Redaktion, sondern auch die privaten?«, fragte Marisa, ihre Kommunikationsspezialistin.
Sie hatte feuerrotes Haar und Sommersprossen. Seit einiger Zeit war sie mit dem sechsunddreißig Jahre alten Boris liiert, dem ältesten von Singerers Assistenten.
Singerer nickte. »Ich glaube, er hat Informationen, die er uns vorenthält.«
Boris schaute hoch und rückte seine Brille zurecht. »Ihre Befugnisse …«
»Ich weiß. Ich habe ihm gestern Abend damit gedroht. Aber fahren wir nicht sofort schweres Geschütz auf. Durch Kesslers Überwachung finden wir vielleicht mehr heraus, als wenn wir ihn in Beugehaft nehmen würden.«
Das Telefon auf Singerers Schreibtisch klingelte. Er nahm ab. »Ja?«
»Mehrendorf«, stellte sich der Mann am anderen Ende der Leitung vor. »Lothar Mehrendorf. Ich bin der persönliche Assistent von Kommissar Torensen gewesen.«
»Oh, ja.«
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