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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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gekleidete Alte entgegen, hob beide Arme und rief: »Oh, Don Vincenzo … Er ist krank! Raffaele ist krank!«
    »Was hat er, Giuseppina? Was ist mit ihm passiert?«
    »Ich weiß es nicht, Don Vincenzo. Sie haben ihn im Gemeindehaus unter Quarantäne gestellt. Niemand darf hinein.«
    Der Priester eilte weiter, und Sebastian schloss sich ihm an. Sie kamen an der kleinen Kirche vorbei, und als sie kurze Zeit später das Gemeindehaus erreichten, stießen sie dort auf weitere Carabinieri. Don Vincenzo schenkte ihnen keine Beachtung und ging mit langen, zielstrebigen Schritten zum Eingang,
doch ein Uniformierter trat ihm in den Weg. »Sie können da nicht hinein«, sagte er mit freundlichem Nachdruck.
    »Ich wohne hier, junger Mann.« Diese Carabinieri kannten ihn offenbar nicht, denn er fügte hinzu: »Ich bin der Priester dieses Ortes.«
    Der Uniformierte wechselte einen Blick mit seinen Kollegen. »Ich bin angewiesen, niemanden passieren zu lassen.«
    »Soll ich kommende Nacht vielleicht auf der Straße schlafen?«, fragte Don Vincenzo verärgert. »Ist der Bischof dort drin?«
    »Ja.«
    »Dann besteht wohl kaum die Gefahr, dass ich mich mit irgendetwas anstecke, oder?« Der Priester ging an dem jungen Uniformierten vorbei, der diesmal nicht versuchte, ihn aufzuhalten. Sebastian wollte Don Vincenzo erneut folgen, aber der Carabiniere hielt ihn zurück. »Sie wohnen bestimmt nicht im Gemeindehaus, oder?«
    »Nein, ich …«
    »Also bleiben Sie hier.«
    Sebastian wich zurück. »Don Vincenzo!«
    Auf halbem Wege zum Eingang blieb der Priester stehen und drehte sich um.
    »Bitte, Don Vincenzo!«, rief Sebastian, in der Hoffnung, dass der Priester verstand, was er meinte.
    Don Vincenzo antwortete nicht, eilte weiter, öffnete die Tür und verschwand im Gebäude.
     
    Einige Pilger wanderten durch den Ort und sprachen mit den Einheimischen, wenn sie ein wenig Italienisch konnten. Manche nutzten die Gelegenheit, verschiedene Souvenirs wie Kruzifixe
und Heiligenfiguren oder auch Gemüse sott’aceto und Peperoncini piccanti zu kaufen. Andere standen bei den Buden auf dem Platz vor der Kirche, tranken Wein und eisgekühlte Limonade und spekulierten darüber, was mit Raffaele geschehen sein mochte. Sebastian sprach mit einigen von ihnen, aber niemand schien Genaueres zu wissen. Carabinieri waren plötzlich erschienen, in Begleitung des Bischofs und einiger Leute aus Rom, und plötzlich durfte niemand mehr ins Gemeindehaus.
    Schließlich ging Sebastian in die Kirche und nahm auf der vordersten Sitzbank Platz. Einige Alte saßen hinter ihm und beteten leise. Gelegentlich kam ein Pilger, tauchte die Finger ins Weihwasser und bekreuzigte sich. Stille herrschte an diesem Ort, und die Gedanken hatten hier mehr Freiraum als draußen bei den vielen Stimmen. Sebastian sah zum Altar und dem Kreuz, erinnerte sich dabei an die Geschehnisse des vergangenen Abends und fragte sich, ob er durch den Jungen tatsächlich die Hand Gottes gefühlt hatte. Wie er es auch drehen und wenden wollte, an gewissen Tatsachen kam er nicht vorbei. In der Klinik »Madonna della Consolazione« war ein Hirntumor bei ihm diagnostiziert worden, und nach der »Behandlung« durch Raffaele war dieser Tumor, der angeblich sofort eine Operation erfordert hätte, spurlos verschwunden. Aus dem Todkranken, der nur noch wenige Wochen zu leben hatte, wenn er sich nicht den Kopf aufbohren ließ, war wieder jemand geworden, der weit in die Zukunft blicken konnte. Das damit einhergehende Wechselbad der Gefühle hatte Sebastian so sehr erschöpft, dass er sich in emotionaler Hinsicht halb betäubt fühlte. Irgendwie hatte Raffaele am vergangenen Abend den Tumor aus seinem Gehirn verschwinden lassen, ob mit
oder ohne Gottes Hilfe. Doch jetzt stellte sich die Frage: War dabei noch etwas anderes mit ihm geschehen?
    Er schloss die Augen und sah Monika Derbach, die sich selbst den Bauch aufgeschlitzt hatte. Er erinnerte sich an ihre beiden Kinder, an das Entsetzen im Gesicht des Jungen, an seinen abgeschnittenen Penis und all das Blut … Monika, eine junge Frau, die plötzlich den Verstand verloren hatte. Was hatte sie dazu gebracht, etwas so Schreckliches zu tun? Was steckte hinter dem Wahnsinn all der anderen? Wolfgang hatte gesagt, dass sie alle hier gewesen waren, in Drisiano, bei dem Jungen. Was war beim Kontakt mit ihm geschehen?
    Was ist gestern Abend mit mir passiert?, dachte Sebastian.
    Er öffnete die Augen, als er merkte, dass sich jemand neben ihn setzte.
    Don Vincenzo

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