Äon - Roman
niemand hat die Wohnung verlassen«, sagte Singerer. Es war eigentlich keine Frage.
»Natürlich nicht.«
»Na schön.« Singerer warf Mehrendorf einen kurzen Blick zu, drückte die Tür auf und betrat die Wohnung, in der es völlig still war. Nach dem ersten Schritt zog er seine Dienstwaffe, entsicherte sie und hielt sie schussbereit in der rechten Hand. Ihn erwartete der Anblick, den er bereits von den Fotos kannte. Jemand, vermutlich Simon Krystek selbst, hatte alles mit blauer und roter Farbe besprüht. Manchmal erweckten die Spritzer und wirren Linien den Eindruck, als formten sie Zeichen und Buchstaben, angeordnet zu Symbolgruppen und unsinnigen Worten. Wer auch immer in der vergangenen Nacht das Siegel aufgebrochen und die Wohnung betreten hatte - er schien keine erkennbaren Spuren hinterlassen zu haben.
Im Schlafzimmer waren die Vorhänge zugezogen. Singerer blieb neben der Tür stehen, während Mehrendorf zum Fenster ging und die Vorhänge beiseitezog.
»Das Wort ist weg«, sagte Singerer und sah zur Decke hoch.
»Ich habe es auf den Fotos gesehen. Rote und blaue Buchstaben bildeten dort das Wort › Nikolaus ‹ .« Jemand hatte es mit schwarzer Farbe übersprüht.
Er sah zu Mehrendorf, der auf der anderen Seite des Bettes stand, mit dem Rücken zum Fenster, den Blick an die Decke gerichtet.
»Aber warum …«, begann Mehrendorf, doch den Rest hörte Singerer nicht. Etwas nahm seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch: In der Ecke neben dem Fenster, halb hinter dem Vorhang verborgen, lag ein dunkles Bündel an der Fußleiste, dicht neben einer Steckdose. An der einen Seite blinkte eine kleine Leuchtdiode.
»Raus hier!«, rief Singerer.
Er wartete Mehrendorfs Reaktion nicht ab, wirbelte herum, lief los, sprang durch die Tür und raste durch den Flur. Sekunden später erreichte er die Wohnungstür, riss sie auf und rief den Polizisten zu: »Eine Bombe!«
Hinter ihm krachte es, als der Sprengsatz explodierte.
20
Reggio Calabria
E s stimmt, Anna«, sagte Sebastian und starrte auf den Bildschirm seines Notebooks. »All die Leute, die in Hamburg und an anderen Orten durchgedreht sind … Sie waren bei Raffaele in Drisiano.«
Er saß in Annas Haus am Tisch neben der offenen Terrassentür. Leichter Wind wehte die warme Luft des späten Nachmittags herein, und unten funkelte das Meer im Sonnenschein. Mehrere Fracht- und Passagierschiffe waren zum Hafen von Reggio Calabria unterwegs.
»Hier«, sagte Sebastian und deutete auf einen Namen. Er hatte Wolfgang Kesslers Dateien heruntergeladen und die Namen der bekannten Fälle mit denen auf Don Vincenzos Liste verglichen. »Monika Derbach aus Hamburg. Sie war vor fünf Monaten hier. Hat eine Rundreise durch Kalabrien gemacht und kam auch nach Drisiano. Sie war zuckerkrank, heißt es. Raffaele hat sie geheilt.« Er hob den Kopf und sah zu Anna, die auf der anderen Seite des großen Zimmers an ihrem PC saß. Der Scanner neben ihr summte leise. »Ich habe ihre Leiche gesehen, Anna. Das Messer steckte noch in ihrem Leib. Sie hatte sich den Bauch aufgeschlitzt. Harakiri. Und bevor sie sich selbst tötete, brachte sie ihre beiden Kinder um,
ein Junge und ein Mädchen. Ihrem Sohn schnitt sie den Penis ab.«
Anna nahm das Blatt aus dem Scanner und eine CD aus dem Laufwerk und reichte ihm beides.
Sebastian legte die CD ins Laufwerk. »Die Datei enthält den gesamten Ausdruck?«
»Ja«, sagte Anna und strich ihr dunkles Haar zurück. Sie wirkte ernst und betroffen.
Sebastian rief Outlook auf, schrieb eine kurze Nachricht an Wolfgang Kessler und fügte die Datei von der CD bei. Wenige Sekunden später war die E-Mail mit einem digitalen Duplikat von Don Vincenzos Namensliste nach Deutschland unterwegs.
Anna stand so dicht neben ihm, dass Sebastian ihr Parfüm roch. Sie hatte es nicht gewechselt, und der vertraute Geruch weckte Erinnerungen an angenehmere Zeiten.
»Was hat er mit all den Menschen angestellt?«, fragte Sebastian und blickte nach draußen, ohne das Meer zu sehen. »Was hat er mit mir gemacht?«
»Auf Don Vincenzos Liste stehen doch auch Namen, die auf Wolfgangs Liste fehlen.« Die Sorge in Annas Stimme war unüberhörbar. »Das hast du vorhin selbst gesagt.«
»Vielleicht dauert es bei den betreffenden Personen nur noch etwas länger, bis sie überschnappen. Was weiß ich?« Sebastian deutete erneut auf den Bildschirm. »Bei einigen von ihnen hat der Wahnsinn eine besondere Form angenommen: Sie bringen andere Leute um, die ebenfalls in Drisiano gewesen
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