Äon - Roman
wirkte verstört. »Etwas geht nicht mit rechten Dingen zu«, sagte er leise. »Man hat mich nicht zu Raffaele gelassen, aber ich bezweifle, dass der Junge krank ist. Es sind keine Ärzte da, nur der Bischof, Carabinieri und Beamte aus dem Vatikan und Rom.« Der Priester zögerte kurz. »Einer der Männer aus Rom … Ich habe gehört, wie er mit jemandem sprach. Offenbar gehört er zur AISI.«
Die Agenzia Informazioni e Sicurezza Interna, so wusste Sebastian, war Italiens neuer Inlandsnachrichtendienst und hatte im August 2007 fast alle Aufgaben des Vorgängers SISDE übernommen. Was machte ein AISI-Mann im Gemeindehaus von Drisiano?
Sebastian erinnerte sich an den BND-Beamten in Hamburg, den Wolfgang erwähnt hatte.
»Die Liste«, sagte er und sprach ebenfalls leise. »Haben Sie eine Namensliste beschaffen können?«
»Niemand hat mich daran gehindert, mein Arbeitszimmer zu betreten. Der dortige Computer enthält die Namen aller Personen, die Raffaele geheilt hat.« Don Vincenzo holte mehrere eng bedruckte Blätter unter seiner Priesterkutte hervor. »Ich konnte sie nicht alle ausdrucken, denn der Bischof rief mich zu sich. Wenn Sie hiermit etwas anfangen können, Signor Vogler …«
Sebastian nahm die Blätter entgegen. »Haben Sie vielen Dank, Don Vincenzo. Ich überprüfe die Namen und spreche mit meinen Freunden in Deutschland. Sie hören von mir, noch heute oder spätestens morgen.«
Don Vincenzo schien ihn gar nicht mehr wahrzunehmen. Er saß da, blickte zum Kreuz und murmelte: »Sie lassen mich nicht zu ihm …«
Sebastian stand auf und verließ die Kirche. Auf dem Weg zum Wagen sah er sich die Liste an und stellte fest, dass sie nach Datum sortiert war. Das letzte stand ganz oben, mit seinem Namen daneben.
19
Hamburg
R oland Singerer ließ den Blick durch das umfunktionierte Konferenzzimmer schweifen und nickte zufrieden. Seine insgesamt acht Assistenten saßen an ihren Schreibtischen; ihre Computer verfügten über gesicherte Datenverbindungen. Sie konnten damit nicht nur auf die Datensysteme der BND-Zentrale in Pullach bei München zugreifen, sondern auch auf Interpol-Datenbanken und die neuesten Ermittlungsergebnisse anderer Geheimdienste in Europa und Übersee. Singerer verglich sich mit einer Spinne im Netz. Er hatte sein Netz ausgelegt und wartete darauf, dass sich etwas darin verfing: ein Hinweis hier, eine seltsame Begebenheit dort, die Andeutung einer Spur. Mehrere Hochleistungscomputer des Bundesnachrichtendienstes empfingen die Videodaten Tausender von Überwachungskameras, und spezielle Erkennungssoftware überprüfte sie nach den individuellen Mustern der bisher bekannten Schlüsselpersonen. Andere Programme suchten in Kommunikationssystemen - von E-Mail-Verkehr bis zu Handy-Gesprächen - nach Stichworten. Die Zahlungssysteme wurden ebenfalls kontrolliert: Wer bezahlte wo und wann wie viel Geld an wen? Eine internationale Rasterfahndung hatte begonnen, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon ahnte. All die Kont - rollsysteme
arbeiteten so zusammen, wie es nach den Anschlägen vom 11. September für die Suche nach Terroristen geplant worden war. Kein Lebensbereich blieb ausgeschlossen, und viele Wände wurden durchsichtig wie Glas.
Singerer runzelte die Stirn, als er sah, wie sich die Tür öffnete und der Polizeidirektor den Raum betrat, der ihm bis gestern als Konferenzzimmer gedient hatte. Er ging ihm entgegen, lächelte freundlich und streckte die Hand aus.
»Guten Morgen«, sagte er. »Wie Sie sehen, sind wir schon bei der Arbeit.«
Lechleitner ergriff seine Hand kurz und ließ sie sofort wieder los. »Ja«, brummte er. »Torensen ist tot. Aber das wissen Sie natürlich.«
»Ich war gestern Abend am Tatort.«
»Ich habe den Bericht gelesen. Ein gewisser Kessler fand die Leiche. Was für ein Zufall. Sein Blatt hat in den letzten Monaten immer wieder Tatortbilder mit viel Blut gebracht. Ich habe Torensen mehrmals darauf hingewiesen, dass das aufhören muss.«
»Ich glaube, diesmal werden keine Bilder erscheinen«, sagte Singerer ruhig.
»Aus dem Bericht ging hervor, dass Sie auch die Ermittlungen im Fall Torensen übernommen haben. Gibt es bereits einen Verdächtigen?«
»Wir arbeiten daran«, sagte Singerer.
»Ja, natürlich.« Lechleitner schnaufte. »Finden Sie den Mistkerl, Singerer. Ich mag es nicht, wenn man meine Leute umbringt.« Damit ging er.
Singerer drückte die Tür hinter ihm zu. Der Mistkerl ist eine Frau, dachte er und kehrte zu seinem Schreibtisch ganz
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