Aetherhertz
Kachelofen, an dem Annabelle sich sofort zu schaffen machte. Paul zündete sich eine weitere Laterne an und sah sich um.
Wie in Baden-Baden war er überwältigt von der Fülle an Büchern und Kunstgegenständen, die er auch hier vorfand. Vitrinen und Schränke, Regale und Gemälde, Kisten und ausgestopfte Tiere ließen das Auge wandern und immer Neues entdecken. Als er um eine Ecke bog, schreckte er zurück: Ein Monster sah ihn aus schwarzen Augen an! Nein, es war nur eine Wand voller Masken. Er erkannte die traditionellen alemannischen Fastnachtsmasken, kunstvoll geschnitzte Larven, die über Generationen vererbt wurden. Jedes Dorf hatte seine eigenen tradierten Formen.
Annabelle summte wieder vor sich hin und er vertiefte sich in die Titel der Bücher in den Regalen. Deshalb zuckte er zusammen, als sie ihn ansprach: „Das dauert jetzt ein paar Stunden, bis das warm wird. Wir müssen auch in den Zimmern einheizen. Kannst du schon einmal in der Küche den Ofen anmachen? Ich habe Hunger.“
Paul dachte an sein Abenteuer in der Baden-Badener Küche, wollte aber sein Bestes tun. Nachdem er das Käuzchen auf einem Tisch abgestellt hatte, suchte er die Küche. Er hatte gerade das Holz aufgeschichtet, als Annabelle kam. Sie sah ihn verwirrt an.
„ Was ist?“, fragte er.
„ Ich weiß nicht ...“, stammelte sie. Sie sah wieder verloren aus. Er merkte, dass sie unsicher war.
Er wartete ein wenig. Sie nestelte an ihrem Handschuh herum.
„ Zieh ihn doch aus“, schlug er vor.
Sie sah ihn forschend an. Er nickte. Sie zog den Handschuh aus, und er sah zum ersten Mal ihre grünen Finger. Die Grünfärbung war dezent, aber nicht zu verbergen. Sie ging über das Handgelenk hinaus und wurde dann blasser, um auf Höhe des mittleren Unterarms ganz verschwunden zu sein. Annabelle rieb sich die Hand unsicher. Paul ging einen Schritt auf sie zu und streckte seine Hand aus. Nach kurzem Zögern legte Annabelle ihre hinein. Sie seufzte und schloss die Augen. Paul beobachtete ihr Gesicht. Für ihn war es kein Unterschied. Die Hand war nicht wärmer oder kälter, nicht feuchter oder trockener. Aber auf Annabelles Gesicht erkannte er eine Fülle an Emotionen, die sich in ihr abspielten. Schließlich öffnete sie die Augen und atmete tief durch.
„ Ich weiß jetzt, welches Zimmer du bekommst”, sagte sie, lächelte und lief davon.
Paul versuchte sich weiter als Feueranzünder.
* * *
Seit sie in der Wanne ohnmächtig geworden war, hatte Annabelle das Gefühl nicht verlassen, sich nicht im gleichen Universum wie die anderen Menschen zu befinden. Es schien alles wie durch einen Schleier getrennt, undeutlich, schemenhaft. Sie hatte zwar die Gesichter der Menschen erkannt, aber nicht mehr ihre Präsenz spüren können.
Als wenn man ein Orchester beobachtet, aber nicht hören kann – man sieht die Bewegung der Streicher und weiß, wie es sich anhören müsste, aber man spürt es nur ganz dumpf. Annabelle war nie aufgefallen, wie sehr sie von diesen Empfindungen abhängig war. Erst jetzt, wo sie fehlten, verlangte es sie nach der Klarheit, die sie vorher gehabt hatte.
Die ersten deutlichen Signale hatte sie von ihrem Schnauzer Sissi bekommen. Die Freude des Hundes war wie ein lauter Trompetenstoß zu ihr durchgedrungen. Frau Barbara ... nun, sie hatte die Hausdame bewusst ausgeblendet. Deren Emotionen waren immer sehr anstrengend. Onkel Karl, ja, sie hatte ihn als beruhigende Präsenz empfunden.
Paul? Sie hatte Mühe, sich genau zu erinnern. Zu oft sah sie ihren Vater, wenn sie ihn ansah. Er war es nicht, das wusste sie. Aber wäre es nicht schön? Sie wünschte es sich so sehr. Dann wieder nicht, denn Paul war mehr – es war wie der Moment, wenn beim Angeln der Schwimmer anfängt leicht zu zucken. Eine schier unendliche Fülle an Möglichkeiten tut sich in diesem Moment auf und mit jedem Zucken, mit jedem Ruck, mit jedem Zug an der Leine, glitzern die Gedankenspiele auf der Oberfläche, bis die Realität diese durchbricht und man betrachtet, was man bekommt: Einen Stiefel oder ein Abendessen, einen leeren Haken oder einen Schatz.
Sie hatte sich lange geweigert, die Schnur aufzuspulen, aber nun war es geschehen. In dem Moment, als sie in ihres Vaters Zimmer stand, um einzuheizen, war ihr plötzlich sehr klar geworden, dass Paul nicht ihr Vater war, dass ihr Vater nicht hier war. Sie hatte Paul in der Küche gefunden, und als er ihr erlaubte, den Handschuh auszuziehen, hatte sie gewusst, dass sich nun entscheiden
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