Aetherhertz
Nase, einen hübschen Mund mit vollen Lippen und einen Hals und ein Dekolleté und …
Annabelle atmete tief ein, was das Dekolleté zwar noch hübscher machte, ihn aber daran erinnerte, dass er nicht zum Katalogisieren ihres Körpers da war.
„ Glauben Sie ja nicht, dass Sie hier unbeaufsichtigt sein werden. Die Herren vom Komitee glauben ja, sie können mit mir machen, was sie wollen, aber ‒“
„ Annabelle“, unterbrach Frau Barbara den Ausbruch, bevor Annabelle sich wieder in Rage reden konnte, „möchtest du dich nicht erst einmal ein bisschen frisch machen? Etwas essen, und dann können wir ja schauen, wo Herr Falkenberg arbeiten kann.“
Paul sah der Hausdame dankbar nach, wie sie Annabelle aus dem Raum bugsierte, und konnte dabei noch eine attraktive Rückansicht genießen.
* * *
„ Monsieur Depuis, Sie müssen ...“, der Junge, der unvorsichtigerweise in das Separee gestürmt war, wurde von großen Händen am Kragen gepackt und in die Luft gehoben.
„ Monsieur Depuis muss garnix“, bellte ihm sein Fänger feucht ins Gesicht. Mundgeruch schon beim Einatmen.
Monsieur Depuis saß indessen allein an einem Tisch und genoss sein Mittagessen. Essen musste in seiner Welt zelebriert werden. Man durfte es nicht nebenbei erledigen, oder gar dabei von Gesellschaft ständig mit Informationen abgelenkt werden, die man gar nicht brauchte. Wenn er Einladungen annahm, dann nie zum Essen. Er entschuldigte es mit einem sensiblen Magen.
Nein, Essen, und natürlich auch Trinken, das war eine Kunstform. Er verehrte Köche – falsch, er verehrte das Handwerk des Kochens. Köche waren leider häufig vulgär und grobschlächtig. In seinen Etablissements verschliss er Köche, wie ein Bauer seine Arbeitshandschuhe.
Er sah von seinem Teller auf. Er hatte den zweiten Gang noch nicht angerührt. Und er würde es nun auch nicht mehr tun. Er schob den Teller beiseite und sein Tischdiener räumte ihn sofort ab.
„ René“, flüsterte er. Der Diener blieb stehen und sah ihn an. „Isch möschte neue Escargots in dix minutes 'ier auf dem Tisch. 'eiß. Comprends?“
„ Oui, Monsieur.“
Dann faltete Monsieur Depuis die Hände über seinem umfangreichen Bauch und sah den Jungen an, der immer noch zehn Zentimeter über dem Boden baumelte und schon langsam blau im Gesicht wurde. Er nickte, und sein Leibwächter ließ den Jungen auf den Boden plumpsen.
„ Dix minutes – zehn Minuten.“
Der Junge keuchte ein paar Mal und rappelte sich dann auf.
„ Die Hartmanns wollen heute Abend im Salon feiern. Sie möchten Champagner, Frauen und sie … wissen … schon.“ Der Junge sah unsicher aus, ob er das richtig wiedergegeben hatte.
Depuis nickte. „Wie 'eißt du?“
„ Karl. Karl Schmitz.“
„ Weißt du, wer isch bin, Karl?“
Karl nickte noch unsicherer.
„ Bien. Was denkst du, Karl, wer ist wischtiger – isch, oder die Geschwister 'artmann?“
Karl dachte intensiv nach. Das fiel ihm sichtbar schwer. Er kratzte sich am Kopf und die struppigen Haare standen in alle Richtungen.
„ Du bist noch ein petit garcon. Wie alt bist du?“
„ Zwölf, Monsieur Depuis.“
„ Douze ans. Isch wusste nix – rien – von dieser Welt, als isch zwölf Jahre alt war. Isch wusste nix und war ein Nix.“
Depuis machte eine Pause um sich die Stirn abzutupfen. Die Unterbrechung seines Essens machte ihm zu schaffen.
„ Aber das ist 'eute anders. Die Geschwister 'artmann sind ein – comment ce dit – Fliegenschiss. Wenn sie es noch einmal wagen, misch beim Essen zu stören, schicke isch ihnen deinen Kopf zurück. Nun geh ab und sag ihnen, sie werden alles so finden, wie immer.“
Depuis faltete wieder die Hände vor der Brust und schloss die Augen.
„ Schmeiß ihn raus und besorg eine Kiste Kirschwasser. Où sont les escargots?“
* * *
Annabelle saß in der Küche. Sie fühlte sich ausgelaugt, ohne genau zu wissen, warum. Hans hatte ihr zwar direkt eine Menge Arbeit gegeben, aber das konnte es nicht allein sein. Sie löste ihren Zopf und spielte mit ihren Haaren.
„ Er ist doch ganz nett“, hörte sie Frau Barbara sagen, die am Gasherd herumfuhrwerkte.
„ Wer?“ Frau Barbara kannte Hans doch überhaupt nicht.
„ Na, der junge Herr Falkenberg.“
Annabelle trank einen Schluck ihres Tees. Nett? Was sollte denn „nett“ bedeuten? Im Moment war er jemand, der sich in ihre Privatsphäre gedrängt hatte. Wenn sie allerdings über ihren Auftritt nachdachte, tat es ihr ein bisschen leid. Der junge
Weitere Kostenlose Bücher