Der schwarze Dom
Prolog
In der Kirche.
Eine Opferung. Und er sollte das Opfer werden.
Endlich begriff der Junge, wofür sie ihn brauchten.
Die Kirche war alt. Sie stand am Rande eines winzigen, heruntergekommenen Städtchens, Sand und Sturm trotzend wie eine Kathedrale, im Würgegriff von unkrautüberwucherter Wüste und schwärzester Nacht. Entdeckt hatte der Junge sie schon aus der Ferne; die schwarze Silhouette des Kreuzes, das sie krönte, hatte wie eine hilfreich ausgestreckte Hand gewirkt und ihn magisch angezogen, als er sich ihr mit klopfendem Herzen und feuchten Augen näherte. Er mußte sich irgendwo verstecken. Sie kamen. Er spürte, daß sie kamen.
Trotzdem zögerte der Junge, als er oben auf den Steinstufen stand. Sein trockener, keuchender Atem dröhnte ihm laut in den Ohren. Es war spät, und er wußte nicht, ob die Kirche offen war, und mit einemmal wurde ihm die Vorstellung unerträglich, daß sie es nicht wäre. Wenn er am Türknauf drehte und dieser sich nicht bewegen ließ, würde er hemmungslos zu schluchzen oder, schlimmer noch, aus vollem Hals zu schreien anfangen, und dann würden sie wissen, wo er war. Dann wäre es endgültig vorbei. Er wollte, daß es vorbei war. Aber das hieß nicht, daß er sterben wollte. Nicht auf ihre Art und Weise.
Er hatte gar keine Wahl. Die Leute aus dem Städtchen konnten ihm nicht helfen, selbst wenn sie ihm die Türe öffneten. Nur Gott konnte ihm helfen. Er griff nach dem Türknauf.
»Lieber Gott, bitte«, flehte er.
Die Tür ließ sich öffnen. Erleichtert trat er in die kühle Halle. Er roch das Wachs brennender Kerzen, lauschte dem stillen Klang jahrelang geflüsterter Gebete. Drinnen war es beinahe genauso dunkel wie draußen. Hätten nicht Kerzen den Altar erhellt, wäre er über die Weihwasserschale gestolpert, die auf einer kleinen Säule neben der Tür stand. Mit seiner ausgetrockneten Zunge versuchte er vergeblich, sich die gesprungenen Lippen zu befeuchten. Dann tauchte er die Fingerspitzen ins Wasser. Er mußte dringend etwas trinken, es widerstrebte ihm jedoch, sich einfach vorzubeugen und hier seinen Durst zu löschen. Es war nicht der Gedanke an Bazillen, der ihn abschreckte; es war die Furcht vor einer Gotteslästerung, vor allem jetzt, wo er es sich überhaupt nicht leisten konnte, irgend jemanden zu beleidigen. Rasch bekreuzigte er sich und ging weiter in die Kirche hinein.
Sie war fast völlig leer. Nur eine alte, schwarz gekleidete Frau saß in einer Bank. Als er hereinkam, stand sie schnell auf, warf ihm einen verstohlenen Blick zu und zog den Schal über den gebeugten Schultern zusammen, bevor sie in einem Beichtstuhl aus Holz verschwand, der rechts in die Steinwand der Kirche eingearbeitet war. Der Junge entspannte sich ein wenig. Im Beichtstuhl mußte ein Priester sein, der die Beichte abnahm.
Rechts vom Hauptaltar stand ein kleinerer Schrein, welcher der Jungfrau Maria gewidmet war. Jahrelang war der Junge nicht mehr in einer Kirche gewesen, doch er erinnerte sich daran, daß die Mutter Gottes besonders diejenigen beschützte, die in Gefahr waren. Er hastete den Mittelgang entlang und kniete sich vor der Madonnenstatue nieder. Er beschloß, ein Gebet zu sprechen und eine Kerze anzuzünden. Zu Füßen der Jungfrau brannten bereits Dutzende von Kerzen; in kleinen blauen und roten Schalen flackerten unruhig ihre Flammen. Seine Augen, ohnehin schon feucht, wurden durch die winzigen Flammen irritiert, und er holte sein Taschentuch aus der Hosentasche, um die Tränen abzuwischen, die ihm über die Wangen liefen.
Seitlich vom Schrein stand eine Opferbüchse aus stumpfem Silber. Ihm fiel ein, daß man etwas hineinwerfen sollte, bevor man eine Kerze anzündete, und er durchwühlte seine Hosen nach Kleingeld. Er brachte zwei Fünfundzwanzig-Cent-Stücke hervor. Aber bevor er sie noch in die Büchse gleiten ließ, kamen ihm erneut Zweifel. Eine der Münzen, vielleicht sogar beide, würde er brauchen, wenn er die Polizei anrief. Sein Geld hier einfach so wegzuwerfen wäre dumm.
Dann fiel ihm ein, was er gesehen hatte, was er mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Händen berührt hatte. Hastig schob er das Geld in die Opferbüchse und griff nach dem Stab, um eine Kerze anzuzünden.
Es gelang ihm jedoch nicht, das Ding zum Brennen zu bekommen. Der Docht ließ sich einfach nicht gerade halten; ständig bewegte er sich hin und her, und der Junge wurde wütend, bis er auf einmal merkte, daß es seine eigenen Hände waren, die zitterten. Er
Weitere Kostenlose Bücher