Affaere in Washington
Shelby kam, konnte das Abendessen nicht weit sein. Auch der Vogel schüttelte seine bunten Flügel und knackte mit dem krummen Schnabel.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Shelby bei Moische und kraulte ihn hinter den Ohren, was er immer besonders genoss. Mit freundlichem Schnurren schaute der Kater zu ihr auf und drückte seinen Kopf gegen die Hand seiner Herrin. »Die schwarze Augenklappe steht dir ausgezeichnet«, lobte Shelby und holte das Futter für Moische.
Dabei wurde ihr deutlich, wie hungrig sie selbst war. Zum Essen hatte sich einfach keine Zeit gefunden, und jetzt musste sie sich beeilen, um nicht zu spät auf der Party zu erscheinen. Hoffentlich gibt es ausnahmsweise etwas mehr als Snacks und Salzgebäck, dachte sie. Sie hatte es ihrer Mutter fest versprochen, dass sie zu dem Empfang des Abgeordneten Write kommen würde, da half alles nichts. Deborah Campbell, ihre Mutter, verstand keinen Spaß, wenn man sein Wort nicht hielt.
Shelby liebte ihre Mutter sehr, mehr und auf eine andere Art, als es bei Kindern im Allgemeinen üblich war. Trotz der fünfundzwanzig Jahre Altersunterschied wurden Deborah und Shelby Campbell manchmal für Schwestern gehalten. Beide hatten leuchtendes kastanienrotes Haar. Deborah trug es kurz geschnitten, eng am Kopf anliegend. Um Shelbys Gesicht wogte eine lange, lockige Mähne, und Ponyfransen, die meist dringend einer Kürzung bedurften, fielen ihr in die Stirn. Bei Deborah Campbell wirkte diese Kombination zart und vornehm. Shelby erinnerte mit ihrem schmalen Gesicht und den betonten Wangenknochen, die sie etwas hohlwangig erscheinen ließen, ein wenig an ein verlassenes Waisenkind, das an der Straßenecke kauerte und Blumen zum Verkauf anbot. Gelegentlich unterstrich sie diesen Eindruck noch durch geschicktes Make-up und leicht antik wirkende Kleidung, für die sie eine besondere Vorliebe hatte.
Shelby mochte äußerlich viel von ihrer Mutter haben, sonst aber glich sie ihr nicht. Es war ihr nicht bewusst, dass sie besonders eigenständig oder exzentrisch war. Diese Züge gehörten einfach zu ihrem Wesen.
In Washington aufgewachsen, vor dem Hintergrund hoher Politik, lebte sie mit größter Selbstverständlichkeit in dieser Umgebung. Wochenlang hatte die Familie den Vater nicht zu Gesicht bekommen, wenn Wahlfeldzüge ihn in Atem hielten, finanzielle Transaktionen organisiert und durchgeführt wurden und Parteiinteressen oberstes Gebot waren. All das bildete einen nicht wegzudenkenden Teil ihrer Vergangenheit.
Sie erinnerte sich gut an sorgsam geplante Kindergesellschaften, die wie Pressekonferenzen vorbereitet werden mussten. Die Kinder von Senator Campbell gehörten zu seinem Image, und alle Bemühungen in dieser Richtung hatten ein gemeinsames Ziel: den Sessel hinter dem großen Schreibtisch im Weißen Haus.
Dabei war sich Shelby absolut im Klaren, dass ihr Vater es nicht nötig hatte, sich und anderen etwas vorzumachen. Er war ein ausgezeichneter, fähiger Mann, fair, großzügig und vortrefflich geeignet für dieses hohe Amt.
Aber sein Sinn für Humor und sein politischer Weitblick hatten ihn nicht vor der Revolverkugel eines Wahnsinnigen schützen können.
Seitdem waren fünfzehn Jahre vergangen. Shelby war damals zu der Erkenntnis gelangt, dass die Politik ihren Vater getötet hatte. Jeder Mensch musste sterben – so viel hatte sie schon als elfjähriges Kind verstanden. Aber der Zeitpunkt kam zu früh für Robert Campbell. Wenn der Tod sogar einen Mann wie ihn, den sie für unverwundbar gehalten hatte, vorzeitig treffen konnte, dann war niemand in diesem Geschäft davor sicher. Jeder befand sich täglich in Lebensgefahr.
Seinerzeit, als verzweifeltes, unglückliches kleines Mädchen, hatte Shelby sich fest vorgenommen, jeden Moment ihres Lebens zu genießen und so viel wie möglich aus diesem Erdendasein herauszuquetschen. Und an diesem Entschluss hatte sich bis heute nichts geändert.
Auch bei der Write’schen Cocktailparty in der geräumigen Villa auf der anderen Flussseite würde irgendetwas amüsant und unterhaltsam sein. Einen verlorenen Abend akzeptierte Shelby nicht.
Shelby hatte sich verspätet, aber das war bei ihr nichts Außergewöhnliches und hätte deshalb niemanden verwundert. Nicht aus Nachlässigkeit war sie so oft unpünktlich oder etwa deshalb, weil sie Aufmerksamkeit erregen wollte, keineswegs. Die Dinge, die sie sich vorgenommen hatte, dauerten einfach immer ein bisschen länger als vorausgesehen. An diesem Abend jedoch waren so
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