AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
Hörern, aber ein Nichts im Anblick von Fragern.“
Das vernichtende Urteil des Jungen über den alten Lehrmeister verstärkt Abaelards Ruf als anmaßender Gelehrter, der aber gerade durch seine rücksichtslose Überheblichkeit immer zahlreichere Anhänger findet.
Abaelard zieht wieder nach Paris, siedelt sich am Montagne Sainte-Geneviève am linken Seine-Ufer an. Heute krönt das Panthéon die kleine Erhebung, die in römischer Zeit Mittelpunkt der Siedlung war. Von dort sind es nur wenige Minuten zu Fuß über eine Brücke auf die „Île de la Cité“. Der wegen seines scharfen Verstandes Verehrte erhält im Jahr 1114 endlich den Ruf an die Domschule von Notre-Dame und bekleidet binnen weniger Jahre das höchste akademische Lehramt des Mittelalters. Er ist der herausragende Philosoph und Scholastiker seiner Zeit, verehrt und heftig umstritten.
Petrus Abaelard genießt in Paris nicht nur die akademischen Würden, er entdeckt und erliegt auch den „Lockungen des Fleisches“: „Schon hielt ich mich für den einzigen Philosophen in der Welt, der von keiner Seite mehr eine Verunsicherung zu fürchten brauchte, und ich, der bis jetzt streng enthaltsam gelebt hatte, begann nun meinen Leidenschaften die Zügel schießen zu lassen.“
Ausgerechnet jetzt begegnet dem Pariser Starphilosophen und bewunderten Denker ein junges Mädchen. Heloisa lebt mit ihrem Onkel, dem Domherrn Fulbert, im Schatten von Notre-Dame. Die kaum 17-jährige junge Frau verfügt über außerordentliches Schulwissen. Sie spricht Latein, Griechisch und etwas Hebräisch. Die Nichte des Kanonikus dürfte auch keineswegs reizlos gewesen sein, jedenfalls beschreibt Abaelard sie blumig: „Gehörte sie schon in ihrem Äußeren nach nicht zu den Letzten, so war sie durch den Reichtum ihrer Bildung weitaus die Erste.“
Dem „hochgefeierten“ Abaelard stach die kluge Domherrn-Nichte jedenfalls ins Auge. Der Enddreißiger hatte noch keine Erfahrungen mit Frauen gesammelt. Für Beziehungen zu adeligen Damen stand er gesellschaftlich einige Stufen zu tief, mit „Dirnen“ wollte er sich nicht einlassen. Die blutjunge Dame aus angesehenem Haus regte Abaelards Fantasie sehr heftig und eindeutig an. Er selbst gesteht in seinen Erinnerungen die wenig lauteren Absichten: „Sie, die ich mit allem geschmückt sah, was Liebhaber anzulocken pflegt, gedachte ich nun, da sie eher willfährig war, zur Liebe an mich zu fesseln.“
Da trifft es sich gut, dass Onkel Fulbert ausgerechnet Abaelard als prominenten Hauslehrer für seine kluge Nichte engagiert, ihm Kost, Logis und Gehalt anbietet, wenn er Heloisa in allem Nötigen unterrichten wolle. Fulbert tritt dem Lehrer gar die Erziehungsgewalt ab, ermächtigt ihn, die Nichte auch mit Schlägen zu züchtigen. Der um gut 20 Jahre ältere Professor an der Domschule lässt sich nicht lange bitten. Kanonikus Fulbert hat ihm die hübsche Nichte praktisch auf dem Silberteller serviert: „Ich konnte nicht verblüffter sein, wenn er sein zartes Lämmlein einem heißhungrigen Wolf zu hüten gegeben hätte.“
Die Lehrstunden werden bald für beide intensiv und durchaus nicht langweilig. „Unter dem Deckmantel der Unterweisung gaben wir uns ganz der Liebe hin, und unsere Beschäftigung mit Lektüre bot uns die stille Abgeschiedenheit, die unsere Liebe wünschte. Da wurden über dem offenen Buch mehr Worte über die Liebe als über die Lektüre gewechselt, da gab es mehr Küsse als Sprüche. Nur allzu oft zog es die Hand statt zu den Büchern zu ihrem Busen.“
Die Affäre des Lehrers mit seiner Schülerin wäre heute wohl strafrechtlich relevant, jedenfalls aber ein Skandal. Im Mittelalter entwickelt sich daraus eine Liebeslegende. Abaelard und Heloisa vereinen das Lehren und das Lernen, beide gewinnen an Erfahrung, und die als Strafe gedachten Prügel werden Teil des Liebesspiels. „Es gab einige Mal Schläge. Aber es war Liebe, nicht Grimm, Neigung, nicht Zorn, und sie überboten die Süße von allem Balsam der Welt. Kurz: Keine Stufe der Liebe ließen wir Leidenschaftlichen aus, und wo die Liebe etwas Ungeheuerliches erfinden konnte, wurde es mitgenommen.“
Es sind erstaunliche Geständnisse für einen Kleriker am Beginn des 12. Jahrhunderts: „Es war zärtliche Verliebtheit, die mir die Hand führte – und ihr war diese Züchtigung linder als kostbare Salbe. In unserer Gier genossen wir jede Abstufung des Liebens, wir bereicherten unser Liebesspiel mit allen Reizen, welche die Erfinderlust ersonnen.“
Auch
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