After Moonrise (German Edition)
eben noch in ihrer Wohnung gewesen war und im nächsten Augenblick auf dem Flur stand.
„Harper“, hörte sie Levi rufen, sein erstes Wort, nachdem er so lange geschwiegen hatte, und sie wollte stehen bleiben, wollte sich ihm in die Arme werfen, aber sie konnte nicht.
Es tut mir leid, dachte sie. Ihm hatte man die gleiche Nachricht überbracht, und doch war sie nicht da, um ihn zu trösten. Er hatte Trost verdient, aber sie wurde einfach nicht fertig mit der Situation. Konnte nicht damit umgehen, dass sie gefoltert und ermordet worden war, dass ihr Leben vorüber war, dass sie nie wieder Lana umarmen würde, dass sie alles verloren hatte. Also rannte sie, rannte einfach nur, ohne ein Ziel vor Augen – und stand plötzlich irgendwie vor der Kunstgalerie … ohne dass sie sich daran erinnerte, das Gebäude verlassen zu haben.
Ihr Magen drehte sich um vor Übelkeit. Das muss noch ein Blackout gewesen sein, redete sie sich ein.
Es war helllichter Tag, zu hell, und auf den Gehsteigen waren viele Leute unterwegs. Alle ignorierten sie. Autos rasten auf der Straße vorbei, die Luft war voller Abgase. Sie wollte auch von hier wieder wegrennen, aber sie erlaubte es sich nicht. Durch das Fenster sah sie, wie der Besitzer einem Kunden im hinteren Teil ein Bild zeigte.
Sie beschloss, mit ihm zu reden. Er, der die Toten nicht sehen konnte, würde ihr antworten. Sie würden sich unterhalten, und das war es dann. Ja. Ganz einfach. Simpel. Der Beweis, dass Peterson falsch lag – oder recht hatte.
Nein, sie hatte nicht recht.
Erhobenen Hauptes betrat Harper die Galerie.
12. KAPITEL
L evisuchte stundenlang, aber er fand keine Spur von Harper. Sie brauchte Zeit, um zu verarbeiten, was sie soeben erfahren hatte, das verstand er – ihm selbst ging es ja genauso. Aber gerade dadurch war sie verletzlich und achtete nicht auf ihre Umgebung. Jemand könnte …
Sie ist ein Geist. Wer könnte ihr wehtun?
Ja. Stimmte auch wieder.
Sie war ein Geist. Wie er.
Er. Tot. Ermordet. Getötet von dem gleichen Mann, der auch Harper getötet hatte. Wie? Wie?
Peterson und ihr Leibwächter waren nicht mehr da, als er wieder in Harpers Wohnung zurückkehrte. Auch Harper blieb verschwunden. Er ließ sich schwer auf die Couch fallen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen. Tot. Ermordet. Die Wörter kamen ihm immer wieder in den Sinn und hallten in seinem Kopf wider. Tot. Ermordet.
Er versuchte sich zu erinnern. Zuerst sah er nur einen schwarzen Schleier. Mit aller Kraft durchbrach er diesen Schleier, auch wenn er dafür allen Mut zusammennehmen musste. Ein innerer Widerstand wollte ihn zurückhalten, aber er weigerte sich aufzuhören. Er musste die Wahrheit erfahren.
Bilder blitzten in seiner Erinnerung auf, verschwommen zunächst, doch bald schon wurden sie klarer.
Eine Fahrt zu Toppers Haus … Den Psychopathen stecken wir in eine Zelle, wo er schmachten kann, bis er verschimmelt …
Levi und Vince waren mit quietschenden Reifen zum Stehen gekommen, weitere Detectives und Polizisten stiegen aus ihren Wagen. Überall blinkten rote und blaue Lichter. Mithilfe seiner DNS waren sie Topper auf die Spur gekommen, hatten einen Haftbefehl gegen ihn. Sie alle waren so voller Adrenalin und Aufregung, dass man es fast in der Luft riechen konnte. Sie waren kurz davor, den schrecklichsten Fall abzuschließen, an dem sie je gearbeitet hatten, und damit zahllosen Unschuldigen das Leben zu retten.
Vince war es, der die Vordertür eintrat, und Levi lief als Erster ins Haus. Sie durchsuchten es von oben bis unten und fanden schließlich im Keller eine verborgene Tür. Beim Öffnen schlug ihnen ein Schwall aus Gerüchen entgegen, die er sofort erkannte. Blut, Chemikalien, Tod. Sie hörten Schreie, eine Motorsäge, Schluchzen, Gelächter.
An dieser Stelle brach die Erinnerung ab, und der schwarze Schleier senkte sich wieder. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte Levi sich noch einmal hindurch. Der Widerstand wurde stärker, aber er trieb sich einfach weiter vorwärts. Er sah sich selbst mit gezogener Waffe. Er polterte eine klapprige Treppe hinunter, nur um zu entdecken, dass Topper damit beschäftigt war, eine Leiche zu zersägen – eine Leiche, die er jetzt als Harper erkannte. Deswegen also hatten ihn jedes Mal Schuldgefühle heimgesucht, wenn er ihr in King’s Landing begegnet war.
Er war zu spät gekommen. Hatte sie nicht mehr retten können.
Ihr helles Haar war auf dem Tisch ausgebreitet, auch wenn es so
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