Afterdark
Wiedergeburt zu glauben. Selbst wenn man als etwas ganz Scheußliches wiedergeboren wird, zum Beispiel als Pferd oder als Schnecke - das kann man sich wenigstens konkret vorstellen. Selbst wenn es beim nächsten Mal nicht gut läuft, bekommt man zumindest noch eine Chance.«
»Aber mir erscheint es ganz natürlich, dass nach dem Tod nichts kommt«, sagt Mari.
»Das liegt bestimmt daran, dass du geistig stark bist.«
»Ich?«
Grille nickt. »Du wirkst wie eine sehr stabile Persönlichkeit.«
Mari schüttelt den Kopf. »Nein, ich bin überhaupt nicht stabil. Als ich klein war, hatte ich überhaupt kein Selbstbewusstsein und war furchtbar ängstlich. Deshalb wurde ich in der Schule auch gemobbt. Ich war die typische leichte Beute. Das steckt noch immer in mir. Ich träume auch ständig davon.«
»Aber mit etwas Zeit und Mühe müsste man so was doch nach und nach überwinden können, oder? Die schlechten Erinnerungen von damals.«
»Nach und nach.« Mari nickt. »Ja, das passt zu mir. Ich bin ein Typ, der sich Mühe gibt.«
»Jemand, der allein vor sich hinhämmert. Wie ein Schmied im Wald.«
»Genau.«
»Ich finde es toll, wenn man das kann.«
»Sich Mühe geben?«
»Sich Mühe geben können.«
»Auch wenn man keine anderen Qualitäten hat?« Grille lächelt.
Mari denkt nach über das, was sie gesagt hat.
»Ich glaube schon, dass ich mir mit der Zeit allmählich so etwas wie eine eigene Welt zurechtschmieden kann«, sagt sie. »Und wenn ich dort allein bin, fühle ich mich sicher bis zu einem gewissen Grad erleichtert. Aber wenn ich mir eine solche Welt eigens schaffen muss, zeigt sich nicht schon daran, dass ich leicht verletzlich und schwach bin? Außerdem wäre diese Welt, von außen betrachtet, schäbig, ungenügend und klein. Wie ein Papphaus würde sie beim ersten Sturm zusammenfallen und weggeblasen ...
»Hast du einen Freund?«, fragt Grille. Mari schüttelt kurz den Kopf.
»Könnte es sein, dass du noch Jungfrau bist?« Mari errötet und nickt ein bisschen. »Ja.«
»Macht doch nichts, so peinlich ist das ja nicht.«
»Nein.«
»Es gab wohl noch keinen, den du mochtest?«, fragt Grille. »Ich war schon mal mit jemandem zusammen, aber ...«
»Aber er gefiel dir nicht so, dass du bis zum Äußersten gehen wolltest.«
»Hmm. Natürlich war ich neugierig, aber weil ich überhaupt nicht so ein Gefühl bekam ... aber ich weiß ja nicht.«
»Total in Ordnung. Wenn dieses Gefühl nicht kommt, kann man's nicht erzwingen. Ehrlich gesagt, ich habe schon mit einer Menge Männer geschlafen, aber wenn ich es mir recht überlege, letztlich nur, weil ich Angst hatte. Angst, niemanden zu haben, und weil ich nie richtig Nein sagen konnte, wenn ich gefragt wurde. Das ist alles. Auf diese Weise bringt es nichts, Sex zu haben. Nur der Sinn deines Lebens geht allmählich verloren. Weißt du, was ich meine?«
»Ungefähr.«
»Ich glaube, wenn du jemanden findest, der zu dir passt, wirst du auch mehr Selbstbewusstsein haben als jetzt. Sich auf Halbheiten einzulassen hat keinen Sinn. Es gibt Dinge auf der Welt, die man nur allein machen kann, und Dinge, die nur zu zweit gehen. Und es ist wichtig, dass man das gut kombiniert.«
Grille kratzt sich am Ohrläppchen. »In meinem Fall ist es ja leider schon zu spät.«
»Du, Grille?«, fragt Mari in ernstem Ton. »Hm?«
»Es wäre schön, wenn du nicht mehr auf der Flucht sein müsstest, oder?«
»Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, vor meinem eigenen Schatten davonzulaufen«, sagt Grille. »Egal, wie weit ich laufe, ich kann einfach nicht entkommen. Den eigenen Schatten kannst du eben nicht abschütteln.«
»Aber vielleicht ist es gar nicht so«, sagt Mari und fügt nach einigem Zögern hinzu: »Möglicherweise ist es gar nicht dein eigener Schatten, sondern etwas ganz anderes.«
Grille denkt einen Augenblick nach, dann nickt sie. »Kann sein. Ich muss mich eben irgendwie durchschlagen.« Sie schaut auf ihre Armbanduhr, streckt sich ausgiebig und steht auf.
»Allmählich muss ich an die Arbeit. Du ruhst dich hier noch ein bisschen aus, und wenn es hell wird, machst du, dass du nach Hause kommst, verstanden?«
»Hm.«
»Ich habe das sichere Gefühl, dass mit deiner Schwester alles gut wird. Irgendwie.«
»Danke«, sagt Mari.
»Mari, auch wenn du dich mit deiner Schwester vielleicht in letzter Zeit nicht so gut verstanden hast, das war doch sicher auch mal anders. Erinnere dich an die Momente, in denen du dich deiner Schwester sehr nah gefühlt und
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