Afterdark
wache ich plötzlich auf. Meine Sachen sind völlig durchgeschwitzt. Im Wachen fühle ich mich verfolgt, und wenn ich schlafe, verfolgen sie mich im Traum. Mein Herz findet keine Ruhe. Erleichterung empfinde ich nur, wenn ich hier Tee trinke und mit Kaoru und Kamille über harmlose Banalitäten plaudere ... Mari, du bist die Erste, der ich das alles erzählt habe. Nicht Kaoru und auch nicht Kamille.«
»Dass du vor etwas auf der Flucht bist?«
»Mm. Natürlich ahnen sie etwas.«
Die beiden schweigen eine Weile.
»Glaubst du mir, was ich dir erzählt habe?«
»Ja, das tue ich.«
»Wirklich?«
»Natürlich.«
»Vielleicht habe ich dir ja totalen Quatsch erzählt - das weißt du doch nicht. Wir sind schließlich Fremde.«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass du lügst«, sagt Mari. »Ich bin froh, dass du das sagst. Ich möchte dir kurz was zeigen.«
Grille hebt ihr Hemd hoch und entblößt ihren Rücken. Rechts und links der Wirbelsäule sind symmetrische Zeichen eingegraben, wie bei einem geschnitzten Stempel. Drei schräge Linien, die an Spuren von Vogelkrallen denken lassen. Sie sehen aus wie eingebrannt. Die Haut darum herum ist vernarbt. Es sind Spuren heftiger Schmerzen. Bei ihrem Anblick verzieht Mari unwillkürlich das Gesicht.
»Das gehört zu den Dingen, die sie mir angetan haben«, sagt Grille. »Ich wurde gezeichnet. Aber das ist nicht das Einzige. Nur um dir zu zeigen, dass ich nicht lüge.«
»Schrecklich.«
»Das habe ich noch nie jemandem gezeigt. Nur dir, weil ich will, dass du mir glaubst.«
»Ich glaube dir doch.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mich dir anvertrauen kann. Wieso, weiß ich nicht ...«
Grille lässt ihr Hemd herunter. Dann seufzt sie tief, wie um das Thema abzuschließen.
»Du, Grille?«
Hm?«
»Es gibt etwas, das ich auch noch nie jemandem erzählt habe. Darf ich es dir erzählen?«
»Klar. Erzähl.«
»Ich habe eine zwei Jahre ältere Schwester. Wir sind zwei Mädchen.«
Hm.«
»Vor ungefähr zwei Monaten hat meine Schwester gesagt, dass sie sich ein bisschen hinlegen will. Beim Abendessen vor der ganzen Familie hat sie das gesagt. Keiner von uns hat besonders darauf geachtet. Es war zwar erst sieben Uhr, aber meine Schwester schläft immer unregelmäßig, also fand niemand etwas dabei. >Gute Nacht<, sagten wir. Meine Schwester ging, fast ohne etwas gegessen zu haben, in ihr Zimmer und zu Bett. Seither schläft sie.«
»Die ganze Zeit?«
»Ja«, sagt Mari.
Grille runzelt die Brauen. »Sie wacht überhaupt nicht auf?«
»Doch, hin und wieder scheint sie aufzustehen«, sagt Mari. »Wenn Essen auf dem Schreibtisch steht, verschwindet es. Sie geht wohl auch auf die Toilette, manchmal duscht sie und wechselt ihre Sachen. Das heißt, sie wacht auf und macht das Notwendigste - das Minimum, das zum Leben nötig ist. Wirklich nur das absolute Minimum. Aber weder ich noch meine Eltern haben gesehen, wie sie aufsteht. Wenn ich ins Zimmer komme, liegt sie immer im Bett und schläft. Nicht, dass sie nur so tut, sie schläft richtig. Sie atmet oder bewegt sich kaum, fast wie tot. Man kann sie anschreien und rütteln, sie wacht nicht auf.«
»Und ... habt ihr einen Arzt konsultiert?«
»Unser Hausarzt kommt regelmäßig, um nach ihr zu sehen. Als praktischer Arzt kann er keine Volluntersuchung machen, aber vom medizinischen Standpunkt ist mit meiner Schwester alles in Ordnung. Ihre Körpertemperatur ist normal, ihr Puls und Blutdruck sind ein bisschen niedrig, aber nicht bedrohlich. Sie nimmt ausreichend Nahrung zu sich und braucht deshalb keinen Tropf. Sie schläft einfach nur fest. Wäre es natürlich eine Art von Koma, hätten wir ein schweres Problem, aber solange sie hin und wieder aufwacht und sich einigermaßen versorgt, braucht sie keine Pflege. Wir waren auch bei einem Psychiater. Aber ihre Symptome passen in kein Krankheitsbild. Wenn jemand den Schlaf so sehr braucht, dass er selbst ankündigt, >ich schlafe jetzt ein bisschen<, und dann endlos schläft, dann sollte man ihn vorläufig in Ruhe schlafen lassen, hat er gesagt. Für eine Behandlung müsse sie aufwachen und ein Gespräch führen. Also lassen wir sie einfach schlafen.«
»Aber sie ist nicht im Krankenhaus genau untersucht worden?«
»Meine Eltern möchten daran glauben, dass alles gut wird. Sie will nur schlafen, sagen sie, also lassen sie sie. Vielleicht wacht sie eines Tages einfach von selbst wieder auf, als wäre nichts gewesen, und alles wird wie vorher. An diese Möglichkeit
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