Afterdark
klammern sie sich. Aber ich kann das nicht ertragen. Oder zumindest manchmal kann ich es nicht mehr ertragen. Unter einem Dach mit meiner Schwester zu leben, die aus unbekannten Gründen seit zwei Monaten in tiefem Schlaf liegt.«
»Und deshalb gehst du aus dem Haus und hängst nachts in der Stadt rum?«
»Ich kann nicht richtig schlafen«, sagt Mari. »Wenn ich es versuche, muss ich immer an meine Schwester denken, die im Nebenzimmer schläft und schläft. Es ist so schlimm geworden, dass ich nicht zu Hause bleiben konnte.«
»Zwei Monate ... Das ist lang.«
Mari nickt stumm.
»Also, natürlich kenne ich die näheren Umstände nicht, aber meinst du nicht, deine Schwester hat ein großes inneres Problem? Das sie aus eigener Kraft nicht lösen kann. Also hat sie sich ins Bett gelegt, weil sie am liebsten immer nur schlafen möchte. Um sich vorläufig aus der Welt der Lebenden auszuklinken. Das kann ich gut verstehen. Sogar nachempfinden.«
»Hast du auch Geschwister, Grille?«
»Ja, zwei jüngere Brüder.«
»Steht ihr euch nah?«
»Früher schon«, sagt Grille. »Jetzt weiß ich nicht, ich habe sie lange nicht gesehen.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht viel über meine Schwester«, sagt Mari. »Was sie täglich so gemacht hat, wie sie gelebt hat, was sie gedacht hat, mit welchen Leuten sie zusammen war. Ich weiß nicht mal, ob sie Kummer hatte. Wir haben im selben Haus gewohnt, meine Schwester war beschäftigt, ich war beschäftigt, aber wir Schwestern haben uns nie offen und in Ruhe ausgesprochen. Wir waren auch nicht verfeindet. Seit wir erwachsen sind, haben wir uns nie gestritten. Jede führt schon sehr lange ihr eigenes Leben ... «
Mari starrt auf den leeren Bildschirm.
»Was ist deine Schwester denn so für ein Mensch?«, fragt Grille. »Macht nichts, wenn du nichts über ihr Innenleben weißt.
Dann erzählst du mir eben das Oberflächliche.«
»Sie ist Studentin. Sie geht auf eine von Missionaren geleitete Uni für höhere Töchter. Sie ist einundzwanzig und studiert Gesellschaftswissenschaften, aber ich glaube, sie interessiert sich eigentlich nicht dafür. Sie ist bloß pro forma eingeschrieben und macht nur das Nötigste. Manchmal gibt sie mir Geld, damit ich eine Hausarbeit für sie schreibe. Außerdem modelt sie für Zeitschriften und tritt manchmal im Fernsehen auf.«
»Im Fernsehen? In welcher Sendung?«
»Nichts Großartiges. Zum Beispiel in so einer Quizsendung, da musste sie nur nett lächeln und die Preise hochhalten. Die Sendung ist abgesetzt, deshalb tritt sie dort nicht mehr auf. Sie hat auch in ein paar Werbespots mitgewirkt, für eine Umzugsfirma oder so. So was eben.«
»Sie ist bestimmt sehr hübsch, oder?«
»Alle sagen das. Sie sieht mir überhaupt nicht ähnlich.«
»Wenn ich doch auch nur einmal als eine solche Schönheit geboren werden könnte!« Grille stößt einen kurzen Seufzer aus.
Mari zögert einen Moment. »Aber etwas finde ich seltsam ...«, vertraut sie Grille dann an. »Im Schlaf ist sie fast unheimlich schön. Noch schöner als im Wachen. Als könnte man durch sie hindurchsehen. Selbst ich als ihre Schwester staune darüber.«
»Wie Dornröschen.«
»Genau.«
»Vielleicht küsst jemand sie ja wach«, sagt Grille. »Wenn alles gut geht«, sagt Mari.
Sie schweigen eine Weile. Grille spielt noch immer ziellos mit der Fernbedienung herum. Von weither ist ein Martinshorn zu hören.
»Mari, glaubst du an Wiedergeburt?«
Mari schüttelt den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.«
»Nicht an ein nächstes Leben oder so was?«
»Ich habe mir noch nicht groß Gedanken darüber gemacht. Aber eigentlich gibt es keinen Grund anzunehmen, dass es eines gibt.«
»Man stirbt, und danach kommt nichts?«
»Ja, ich glaube schon«, sagt Mari.
»Ich glaube, dass es eine Wiedergeburt oder so was gibt. Sonst hätte ich auch unheimlich Angst, denn so was wie das Nichts kann ich nicht begreifen. Und es mir auch gar nicht vorstellen.«
»Beim Nichts ist eben überhaupt nichts da, also ist es nicht nötig, dass man es begreift oder sich vorstellt, oder?«
»Ja, aber wenn es nun zufällig eine Art von Nichts gibt, die unbedingt Verständnis und Vorstellung und so erfordert? Was dann? Du warst ja noch nie tot. Niemand weiß, wie das in Wirklichkeit ist.«
»Da hast du schon Recht, aber ...«
»Wenn ich nur darüber nachdenke, werde ich fast verrückt vor Angst«, sagt Grille. »Mir bleibt die Luft weg und mir wird ganz schwach. Da ist es doch einfacher, an die
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