Afterdark
hier?«
»Bald sind es anderthalb Jahre. So lange habe ich es noch nie an einer Stelle ausgehalten.«
Nach einer Pause spricht Mari sie wieder an. »Darf ich dich mal was Persönliches fragen?«
»Kein Problem. Wenn's nicht zu schwierig zu beantworten ist.«
»Macht es dir wirklich nichts aus?«
»Nein, null, überhaupt nichts, frag nur.«
»Du hast gesagt, du hast deinen richtigen Namen abgelegt.«
»Mm, hab ich.«
»Warum hast du das gemacht?«
Grille nimmt die Teebeutel heraus, legt sie in den Aschenbecher und stellt Mari einen Teebecher hin.
»Weil ich mit meinem richtigen Probleme kriege. Aus verschiedenen Gründen. Ehrlich gesagt, ich werde von gewissen Leuten gesucht.«
Grille nimmt einen Schluck von ihrem Tee.
»Du weißt das sicher nicht, aber wenn man richtig untertauchen will, ist ein Job in einem Love Hotel so ziemlich das Praktischste. In einem Ryokan verdient man natürlich mehr, weil die Gäste Trinkgelder geben. Aber man wird dort ständig von den Leuten gesehen und muss mit ihnen reden. In einem Love Hotel sieht dich niemand. Es ist ein diskreter Job an einem dunklen Ort. Und du kriegst einen Platz zum Pennen. Außerdem braucht man keinen Lebenslauf, keine Bürgen und solchen lästigen Kram. Wenn man sagt, >es ist mir unangenehm, meinen richtigen Namen zu sagen<, heißt es, >Okay, dann heißt du jetzt Grille<. Für eine Hilfskraft genügt das. Außerdem arbeiten Leute, die etwas zu verbergen haben, immer besonders gut. So ist das auf dieser Welt.«
»Und deshalb bist du nie lange an einem Ort geblieben?«
»Genau. Wenn es mir an einer Stelle zu heiß wurde, habe ich mich immer vom Acker gemacht. So bin ich ziemlich rumgekommen. Von Hokkaido bis Okinawa gibt es keinen Ort ohne Love Hotels, also war es nicht schwer, Arbeit zu finden. Aber hier fühle ich mich wohl, und weil Kaoru so in Ordnung ist, bin ich einfach geblieben.«
»Bist du schon lange auf der Flucht?«
»Bald werden es drei Jahre.«
»Hast du die ganze Zeit solche Jobs gemacht?«
»Ja, hier und da.«
»Und die, vor denen du auf der Flucht bist, hast du Angst vor denen?«
»Na klar. Totale Angst. Aber ich will nicht mehr davon reden. Ich versuche möglichst, nicht darüber zu sprechen.«
Sie schweigen eine Weile. Mari trinkt ihren Tee, und Grille starrt auf den leeren Bildschirm.
»Was hast du denn früher gemacht?«, fragt Mari. »Bevor du geflüchtet bist?«
»Davor war ich eine ganz normale Büroangestellte. Nach der Oberschule habe ich bei einer ziemlich bekannten Handelsfirma in Osaka angefangen und von neun bis fünf in Uniform gearbeitet. Ich war in deinem Alter. Um die Zeit des Erdbebens von Kobe. Wenn ich jetzt daran denke, kommt es mir wie ein Traum vor. Dann ... ist etwas passiert. Nur eine Kleinigkeit. Am Anfang hielt ich es nicht für so wichtig. Aber plötzlich merkte ich, dass ich in großen Schwierigkeiten steckte und weder vor noch zurück konnte. Also habe ich meinen Job aufgegeben und auch meine Eltern verlassen.«
Mari sieht Grille schweigend ins Gesicht.
»Ah, entschuldige, wie heißt du noch mal?«, fragt Grille. »Mari.«
»Aha. Also, Mari, auch wenn der Boden, auf dem wir stehen, fest zu sein scheint, braucht nur irgendetwas zu passieren, und wir brechen tief ein. Und dann ist alles vorbei, wir können nie mehr zurück. Danach leben wir nur noch allein dort unten, in einer halbdunklen Welt.«
Grille denkt noch einmal nach über das, was sie da gesagt hat, und schüttelt dann still den Kopf.
»Nein, natürlich lag es vielleicht nur daran, dass ich ein schwacher Mensch war. Aus Schwäche habe ich die Dinge schleifen lassen. Ich hätte aufpassen sollen, die Augen aufmachen und durchhalten, aber das habe ich nicht geschafft. Ich bin nicht in der Position, dir eine Moralpredigt zu halten, aber ... «
»Was passiert, wenn sie dich finden? Also die Leute, die dich verfolgen.«
»Tja, was wird dann passieren?«, sagt Grille. »Keine Ahnung. Ich will gar nicht darüber nachdenken.«
Mari schweigt. Grille nimmt die Fernbedienung und spielt damit herum. Aber sie schaltet den Fernseher nicht ein.
»Jedes Mal, wenn ich mich nach der Arbeit ins Bett lege, wünsche ich mir, dass ich nicht mehr aufwache. Dass ich einfach immer weiterschlafen darf. Und an nichts denken muss. Aber ich träume. Immer den gleichen Traum. Ständig sind sie hinter mir her, schließlich werde ich entdeckt, eingefangen und dann irgendwohin gebracht. Sie sperren mich in eine Art Kühlschrank und verschließen die Tür. Dann
Weitere Kostenlose Bücher