Afterdark
an ihr gehangen hast. Vielleicht fällt dir da nicht sofort etwas ein, aber wenn du dich bemühst, kannst du dich bestimmt an etwas erinnern. Wenn man schon so lange eine Familie ist, gibt es da sicher irgendwo was.«
»Ja«, sagt Mari.
»Ich denke oft an früher. Besonders, seit ich so auf der Flucht durch ganz Japan bin. Und wenn ich so richtig in meinem Gedächtnis wühle, erwacht alles Mögliche wieder ganz deutlich zum Leben. Dinge, die ich längst vergessen hatte, tauchen plötzlich aus irgendeinem Grund wieder in mir auf. Das ist wirklich interessant. Das menschliche Gedächtnis ist schon ein seltsames Ding. Da stopft es seine Schubladen voll mit dem letzten nutzlosen, banalen Kram, aber die wirklich wichtigen, notwendigen Punkte vergisst es reihenweise, was?«
Die Fernbedienung noch in der Hand, steht Grille da.
»Ich frage mich, ob die Erinnerungen für uns Menschen nicht der Kraftstoff sind, von dem wir leben? Ob diese Erinnerungen wirklich wichtig sind oder nicht, ist für das Weiterleben nicht von Bedeutung. Sie sind nur der Brennstoff. Zeitungsausschnitte, philosophische Texte, schmutzige Bilder, ein Bündel Zehntausend-Yen-Scheine - wenn man sie ins Feuer wirft, sind sie alle nur Papier. Während das Feuer sie verzehrt, denkt es nicht >Oh, das ist ja Kant< oder >Aha, ein Artikel aus der Yomiuri-Zeitung< oder >Wow, tolle Brüste<. Für das Feuer sind das alles nur Papierschnipsel. Genauso ist es mit den Erinnerungen. Bedeutsame Erinnerungen, weniger bedeutsame oder solche, die überhaupt keinen Sinn haben, alle sind sie nur Brennstoff, ohne Unterschied.«
Grille nickt kurz vor sich hin, dann fährt sie fort.
»Und wenn ich diesen Brennstoff nicht hätte, keine Schubladen voller Erinnerungen, wäre ich sicher von meiner Vergangenheit abgetrennt. Ich wäre einsam zusammengekauert an irgendeinem schäbigen Ort gestorben. Nur weil ich immer wieder alle möglichen Erinnerungen hervorkrame, wie unbedeutend sie auch sind, kann ich diesen Albtraum von einem Leben fortführen, das heißt, weiterleben, selbst wenn ich manchmal denke, dass es nicht mehr geht.«
Mari schaut von ihrem Sessel auf und sieht Grille an.
»Und darum solltest auch du in deinem Gedächtnis wühlen und dich erinnern. An deine Schwester. Denn das ist ein wichtiger Brennstoff, für dich und vielleicht auch für sie.«
Mari blickt Grille schweigend an. Grille schaut wieder auf die Uhr. »Jetzt muss ich aber gehen.«
»Danke für alles.«
Grille winkt ihr zu und geht hinaus.
Allein geblieben, schaut Mari sich noch einmal um. Es ist ein enges Zimmer in einem Love Hotel. Ohne Fenster. Die Jalousien sind zwar geöffnet, aber dahinter befindet sich nur eine Vertiefung in der Wand. Das Bett, an dessen Kopfende es eine Unmenge von Schaltern gibt, ist unverhältnismäßig groß und sieht aus wie das Cockpit in einem Flugzeug. In einem Automaten sind Vibratoren in naturgetreuer Nachbildung und außergewöhnliche, bunte Unterwäsche zu haben. Diese Szenerie ist Mari völlig unvertraut, wirkt jedoch auf sie nicht besonders bedrohlich. Sie ist allein in diesem seltsamen Raum und fühlt sich eher geborgen. Schon lange hat sie sich nicht mehr so sicher gefühlt. Sie schmiegt sich tief in den Sessel, schließt die Augen und sinkt in Schlaf. In einen kurzen, aber tiefen Schlaf. Nach dem sie sich lange gesehnt hat.
16
04:52 Uhr
Der Lagerraum im Keller, den man Takahashis Band für ihre nächtlichen Proben überlassen hat. Er hat keine Fenster. Die Decke ist hoch, die Rohre liegen offen. Da die Belüftung mangelhaft ist, darf nicht geraucht werden. Die Nacht nähert sich langsam ihrem Ende, der offizielle Teil der Probe ist schon beendet, und sie ist in eine Jam Session übergegangen. Im Raum sind zehn Personen. Zwei davon sind Frauen, eine sitzt am Klavier, die andere macht gerade Pause und hält ein Sopransaxophon in der Hand. Alle übrigen sind Männer.
Takahashi bläst ein langes Posaunensolo, begleitet von einem Trio aus elektrischem Klavier, Bass und Schlagzeug. Es ist Honeymoon for Two von Sonny Rollins, ein langsamer Blues. Keine schlechte Darbietung. Dabei legt Takahashi weniger Gewicht auf Technik als auf den Ausdruck, der bei seiner Aneinanderreihung der Phrasen entsteht. Vielleicht kommt darin auch seine Persönlichkeit zum Vorschein. Er schließt die Augen und taucht in die Musik ein. Tenorsax, Altsax und Trompete spielen hin und wieder im Hintergrund ein einfaches Riff. Von denen, die nur zuhören, trinken einige Kaffee, lesen die
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