Agent 6
Sie, Sie haben nicht gesagt: »Ich fühle mich, wie sich jeder in meiner Lage fühlen würde, d.h. beunruhigt.«
Der Mann bekam fünfzehn Jahre. Und Leo lernte eine wertvolle Lektion – ein Geheimpolizist durfte sich nicht darauf beschränken, nach staatsfeindlichen Äußerungen zu suchen. Viel wichtiger war es, wachsam auf Beteuerungen von Liebe und Loyalität zu achten, die nicht überzeugend wirkten.
Mit den Erfahrungen der letzten drei Jahre im Hinterkopf blätterte Leo das Tagebuch von Polina Peschkowa durch und bemerkte dabei, dass die Verdächtige für eine Künstlerin eine wenig elegante Handschrift besaß. Den ganzen Text hatte sie mit einem fest aufgedrückten, stumpfen Bleistift geschrieben, ohne ihn je anzuspitzen. Auf den Rückseiten der Blätter fuhr er mit der Fingerspitze über Sätze, die wie Brailleschrift hervorstanden. Er hielt das Tagebuch an die Nase. Es roch nach Ruß. Wenn er mit dem Daumen über die Seiten strich, knisterten sie wie trockenes Herbstlaub. Er roch an dem Buch, sah es genau an und wog es in der Hand – er untersuchte es auf jede mögliche Art, ohne es tatsächlich zu lesen. Den Bericht über den Inhalt des Tagebuchs überließ er der Nachwuchskraft, die ihm zugeteilt war. Als Leo vor Kurzem befördert wurde, hatte er damit auch die Aufgabe übernommen, neue Agenten zu betreuen. Er war vom Schüler zum Mentor geworden. Die neuen Agenten begleiteten ihn während seines Arbeitstags und bei nächtlichen Verhaftungen, sammelten Erfahrung und lernten von ihm, bis sie eigene Fälle übernehmen konnten.
Grigori Semitschastny war dreiundzwanzig Jahre alt und der fünfte Agent, den Leo angelernt hatte. Von allen war er der vielleicht intelligenteste und ohne Zweifel der am wenigsten vielversprechende. Er stellte zu viele Fragen und hinterfragte zu viele Antworten. Er lächelte, wenn er etwas amüsant fand, und runzelte die Stirn, wenn ihn etwas ärgerte. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um zu wissen, was er dachte. Er war noch während des Studiums an der Moskauer Universität angeworben worden, ein herausragender junger Mann, der im Gegensatz zu seinem Mentor einen akademischen Hintergrund besaß. Leo war deswegen nicht eifersüchtig, er wusste nur zu gut, dass ihm ein ernsthaftes Studium nicht lag. Da er seine eigenen Schwächen so klar einschätzen konnte, begriff er umso weniger, warum sein Protegé einen Beruf gewählt hatte, der absolut nicht zu ihm passte. Grigori war für seine Arbeit so ungeeignet, dass Leo sogar erwogen hatte, ihm einen ganz anderen Job nahezulegen. Aber so ein abrupter Wechsel war immer verdächtig und würde den Mann in den Augen des Staates höchstwahrscheinlich unfähig erscheinen lassen. Für Grigori war der einzig gangbare Weg, sich weiter zu mühen, und Leo empfand es als seine Pflicht, ihm so gut wie möglich dabei zu helfen.
Grigori ging konzentriert das Tagebuch durch, er blätterte vor und zurück, als würde er nach etwas Bestimmtem suchen. Schließlich blickte er auf und sagte:
– Im Tagebuch steht nichts.
Leo wusste nur zu gut, wie es ihm als Neuling ergangen war, deshalb war er über diese Antwort nicht besonders überrascht, trotzdem enttäuschte ihn das Versagen seines Protegés. Er antwortete:
– Nichts?
Grigori nickte.
– Nichts Wichtiges.
Das war unwahrscheinlich. Vielleicht enthielt es keine offene Provokation, aber die Dinge, die in einem Tagebuch nicht erwähnt wurden, waren genauso wichtig wie das tatsächlich Niedergeschriebene. Leo beschloss, diese Weisheiten mit seinem Schützling zu teilen, und stand auf.
– Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte. Ein junger Mann hat einmal in sein Tagebuch geschrieben, er sei unerklärlich traurig. Der Eintrag stammte vom 23. August. Und zwar im Jahr 1949. Was schließt du daraus?
Grigori zuckte mit den Schultern.
– Nicht viel.
Leo stürzte sich sofort auf diese Schlussfolgerung:
– Wann wurde der Nichtangriffspakt zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion geschlossen?
– Im August 1939.
– Am 23. August 1939. Das heißt, dieser Mann war am zehnten Jahrestag dieses Vertrages unerklärlich traurig. Weil er außerdem mit keinem Wort die Soldaten geehrt hat, die den Faschismus besiegt haben, oder Stalins militärische Verdienste, wurde seine Traurigkeit als unangemessene Kritik an unserer Außenpolitik interpretiert. Warum über Fehler nachgrübeln, statt stolz zu sein? Verstehst du?
– Vielleicht hatte es gar nichts mit dem Vertrag zu tun. Wir fühlen uns
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