Agent 6
war. Das sollte er nicht persönlich nehmen. Er konnte das besser als jeder andere nachvollziehen, es gefiel ihm sogar. Sie war klug, und auch das machte sie anziehend.
Sein Blick fiel auf ihre Tasche, die voller Bücher und Schreibhefte für die Schule steckte. Als gespielte Geste einer lockeren Vertrautheit griff er in die Tasche und zog ein Buch hervor.
– Sind Sie Lehrerin?
Leo sah kurz auf die Schrift auf dem Buchdeckel. Lena schien sich leicht aufzurichten.
– Ja, bin ich.
– Was unterrichten Sie?
Sie antwortete mit schwacher Stimme:
– Ich unterrichte …
Sie verlor den Faden und legte eine Hand an die Stirn.
– Ich unterrichte Politik. Entschuldigen Sie, ich bin sehr müde.
Das war eindeutig. Sie wollte von ihm in Ruhe gelassen werden. Es fiel ihr schon schwer, höflich zu bleiben. Er gab ihr das Buch zurück.
– Entschuldigen Sie, ich habe Sie gestört.
Leo stand auf, so unsicher auf den Beinen, als würde die Straßenbahn über ein stürmisches Meer schlingern. Auf dem Weg zu seinem Platz klammerte er sich an der Haltestange fest. Demütigung hatte das Blut in seinen Adern verdrängt, das Gefühl wurde durch seinen ganzen Körper gepumpt, jedes Stückchen Haut brannte. Er saß mehrere Minuten lang mit zusammengebissenen Zähnen da und starrte aus dem Fenster, während ihre sanfte Zurückweisung in seinem Schädel widerhallte. Die Hände hatte er so fest zu Fäusten geballt, dass seine Fingernägel zwei Reihen gebogener Abdrücke auf seinen Handflächen hinterließen.
Moskau
Lubjanka-Platz
Lubjanka, Hauptquartier
der Geheimpolizei
Am nächsten Tag
Leo hatte nachts nicht geschlafen, er hatte im Bett gelegen, die Decke angestarrt und darauf gewartet, dass die Demütigung nicht mehr so an ihm nagte. Nach ein paar Stunden war er aufgestanden und in seiner leeren Wohnung auf und ab gelaufen, von einem Zimmer zum nächsten wie ein eingesperrtes Tier, voller Hass auf den üppig bemessenen Raum, den man ihm zugestanden hatte. Da schlief man besser in einer Baracke, das war der richtige Ort für einen Soldaten. Seine Wohnung war für eine Familie gedacht, viele beneideten ihn darum, aber sie war leer – die Küche unbenutzt, das Wohnzimmer unangetastet, unpersönlich, nicht mehr als ein Ort, an dem man sich nach der Arbeit ausruhte.
Er traf früh bei der Arbeit ein, ging in sein Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Er kam immer früh, bis auf den Morgen, an dem er Lena nach ihrem Namen gefragt hatte. Außer ihm war niemand im Büro, zumindest nicht auf seiner Etage. Vielleicht war jemand unten in den Verhörräumen, wo Befragungen manchmal tagelang ohne Pause liefen. Er sah auf die Uhr. In etwa einer Stunde würden die ersten anderen Mitarbeiter eintreffen.
Leo fing an zu arbeiten in der Hoffnung, das würde den Vorfall mit Lena aus seinen Gedanken vertreiben. Aber er konnte sich nicht auf die Papiere konzentrieren, die vor ihm lagen. Mit einer plötzlichen Armbewegung fegte er sie zu Boden. Die ganze Sache ärgerte ihn maßlos – wieso besaß eine Fremde eine solche Wirkung auf ihn? Sie war unwichtig. Er war ein bedeutender Mann. Es gab andere Frauen, reichlich Frauen, von denen sich viele über seine Aufmerksamkeit freuen würden. Er stand auf, lief in seinem Büro auf und ab wie vorher in seiner Wohnung und fühlte sich wie in einem Käfig. Dann öffnete er die Tür, ging den menschenleeren Flur hinunter und fand sich in einem Büro wieder, in dem die Berichte über verdächtige Personen aufbewahrt wurden. Er sah nach, ob Grigori seinen Bericht abgeliefert hatte, und rechnete damit, dass sein Schützling es vergessen oder seine Pflicht aus sentimentalen Gründen nicht erfüllt hatte. Aber die Akte war eingereicht und schlummerte fast als unterste in einem Stapel von Fällen, die weniger dringlich waren. Die meisten würden wochenlang ungelesen dort liegen, sie befassten sich mit absolut banalen Vorfällen.
Leo nahm Peschkowas Akte in die Hand und spürte das Gewicht des Tagebuchs darin. Spontan legte er sie auf den Stapel mit der höchsten Priorität, ganz obenauf – zu den schwersten Verdachtsfällen, was hieß, dass die Akte heute bearbeitet werden würde, sobald die Kollegen eintrafen.
Als Leo wieder an seinem Schreibtisch saß, fielen ihm langsam die Augen zu, als könnte er endlich schlafen, nachdem er diesen bürokratischen Akt erledigt hatte.
*
Leo schlug die Augen auf. Grigori stieß ihn leicht an, um ihn zu wecken. Verlegen, weil er schlafend am Schreibtisch
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