Agent 6
entschied er sich gegen eine Lüge und gab zu:
– Ich dachte, ein Gespräch könnte nützlich sein, um sie richtig einzuschätzen.
– Du solltest ihre Wohnung durchsuchen und sie observieren. Ohne direkten Kontakt. Vielleicht hat sie geahnt, dass du zum MGB gehörst. Dann hätte sie ihr Verhalten ändern können, um dich zu täuschen.
Grigori schüttelte den Kopf.
– Sie hat keinen Verdacht geschöpft.
Leo ärgerten diese Anfängerfehler:
– Das weißt du nur aus ihrem Tagebuch. Dabei könnte sie das Original vernichtet und es mit diesen belanglosen Beobachtungen ersetzt haben, weil sie wusste, dass sie überwacht wird.
Als Grigori das hörte, gab er den kurzen Versuch auf, diplomatisch zu sein; wie ein Schiff, das an Felsen zerschellte, war es mit seiner Zurückhaltung unvermittelt vorbei. Seine spöttische Antwort klang ungewöhnlich anmaßend:
– Sie soll das ganze Tagebuch gefälscht haben, nur um uns zu täuschen? So denkt sie nicht. Sie denkt nicht wie wir. Das ist unmöglich.
Widerspruch von einem jungen Untergebenen, einem Agenten, der seinen Aufgaben nicht gewachsen war – Leo war ein geduldiger Mann, toleranter als die meisten anderen Offiziere, aber Grigori stellte seine Geduld wirklich auf die Probe.
– Gerade die Menschen, die unschuldig wirken, sollten wir oft besonders genau beobachten.
Grigori sah Leo beinahe mitleidig an. Ausnahmsweise passte sein Gesichtsausdruck nicht zu seiner Antwort.
– Du hast recht, ich hätte nicht mit ihr reden sollen. Aber sie ist ein guter Mensch. Da bin ich mir sicher. In ihrer Wohnung und in allem, was sie tut, habe ich nichts gefunden, was darauf hinweisen würde, dass sie keine treue Bürgerin ist. Das Tagebuch ist unbedenklich. Es ist nicht nötig, Polina Peschkowa zu einer Befragung zu holen. Sie sollte ihre Arbeit als Künstlerin weiterführen dürfen, darin ist sie hervorragend. Ich kann das Tagebuch immer noch zurückbringen, bevor sie von der Arbeit kommt. Sie muss von dieser Untersuchung nichts erfahren.
Leo warf einen Blick auf das Foto, das am Aktendeckel klemmte. Die Frau war schön. Grigori war in sie vernarrt. Hatte sie ihn bezirzt, um nicht verdächtigt zu werden? Hatte sie etwas über Liebe geschrieben, weil sie wusste, dass er diese Zeilen lesen würde? Wollte sie so seinen Beschützerinstinkt wecken? Leo musste diese Liebeserklärung gründlich prüfen. Er hatte keine andere Wahl, als das Tagebuch Zeile für Zeile zu lesen. Dem Wort seines Protegés konnte er nicht mehr vertrauen. Die Liebe hatte ihn fehlbar gemacht.
Die Einträge zogen sich über mehr als hundert Seiten. Polina Peschkowa schrieb über ihre Arbeit und ihr Leben. Dabei schlug ihr Charakter deutlich durch: Ihr Stil war unstet, voller Abschweifungen, plötzlicher Einfälle und Erklärungen. Die Einträge sprangen von einem Thema zum nächsten, Gedankengänge wurden oft einfach abgebrochen. Es gab keine politischen Anmerkungen, alles drehte sich um alltägliche Dinge und ums Malen. Nachdem er das ganze Tagebuch gelesen hatte, konnte Leo nicht abstreiten, dass die Frau etwas Anziehendes besaß. Sie lachte oft über ihre Fehler, die sie mit scharfsichtiger Ehrlichkeit beschrieb. Diese Offenheit mochte erklären, warum sie ihr Tagebuch so sorgfältig versteckte. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie es als Tarnung gefälscht hatte. Mit diesem Gedanken bedeutete Leo Grigori, er solle sich setzen. Während Leo gelesen hatte, war Grigori die ganze Zeit stehen geblieben, als würde er Wache halten. Er war nervös. Grigori setzte sich auf die Stuhlkante. Leo fragte:
– Warum hat sie das Tagebuch versteckt, wenn sie unschuldig ist?
Als Grigori zu spüren glaubte, dass Leo ein wenig milder gestimmt war, wurde er aufgeregt. Schnell rasselte er eine mögliche Erklärung herunter:
– Sie wohnt mit ihrer Mutter und zwei kleinen Brüdern zusammen. Sie will nicht, dass sie darin herumschnüffeln. Vielleicht würden sie sich über Polina lustig machen. Sie spricht von Liebe, vielleicht sind ihr solche Gedanken peinlich. Mehr ist es nicht. Wir müssen doch erkennen, wenn etwas nicht wichtig ist.
Leos Gedanken schweiften ab. Er konnte sich vorstellen, wie Grigori die junge Frau angesprochen hatte, aber es fiel ihm schwer, sich auszumalen, dass sie auf die Fragen eines Fremden freundlich reagieren würde. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, er solle sie in Ruhe lassen? Eine solche Offenheit wirkte extrem unvorsichtig von ihr. Er beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme,
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