Agent 6
Moskau
Lubjanka-Platz
Lubjanka, Hauptquartier
der Geheimpolizei
21. Januar 1950
Beim Tagebuchschreiben stellte man sich am besten vor, Stalin würde jedes Wort mitlesen. Das war am sichersten. Aber selbst bei so viel Vorsicht lief man immer noch Gefahr, etwas Unbedachtes zu schreiben, eine unbeabsichtigte Zweideutigkeit, einen missverständlichen Satz. Lob konnte als Spott missverstanden werden, aufrichtige Verherrlichung als Parodie. Weil sich auch der umsichtigste Tagebuchschreiber nicht gegen jede mögliche Interpretation wappnen konnte, blieb noch die Möglichkeit, das ganze Heft zu verstecken, und genau diese Methode hatte im vorliegenden Fall die Verdächtige gewählt, eine junge Künstlerin namens Polina Peschkowa. Ihr Tagebuch war in einem Kamin entdeckt worden, genauer gesagt im Rauchfang, eingewickelt in Wachspapier und zwischen zwei lockere Ziegel gestopft. Um es hervorzuholen, musste sie warten, bis das Feuer erloschen war, dann in den Rauchfang greifen und nach dem Rücken der Kladde tasten. Ironischerweise wurde Peschkowa gerade dieses raffinierte Versteck zum Verhängnis. Wegen eines einzigen rußigen Fingerabdrucks auf ihrer Schreibtischplatte hatte der mit der Untersuchung beauftragte Agent Verdacht geschöpft und daraufhin im Kamin nachgesehen – eine beispielhafte Ermittlungsleistung.
Aus Sicht der Geheimpolizei war es schon ein Verbrechen, ein Tagebuch zu verstecken, ganz egal, was darin stand. Damit versuchte ein Bürger, sein privates Leben vom öffentlichen zu trennen. In Wirklichkeit bestand zwischen beidem kein Unterschied. Die Partei hatte das Recht, über alles, was man dachte und machte, Bescheid zu wissen. Deshalb war ein verstecktes Tagebuch oft der belastendste Beweis, den sich ein Agent erhoffen konnte. Weil es nicht dafür gedacht war, gelesen zu werden, schrieb der Verfasser offen, was er dachte; er wurde unvorsichtiger und brachte ungefragt nichts anderes als ein Geständnis zu Papier. Diese ungeschminkte Ehrlichkeit erlaubte es, sich nicht nur über den Schreiber ein Urteil zu bilden, sondern auch über dessen Freunde und Familie. Manchmal förderte ein Tagebuch bis zu fünfzehn weitere Verdächtige zutage, fünfzehn neue Hinweise, und damit oft mehr als die eindringlichste Befragung.
Diese Untersuchung wurde von Agent Leo Demidow geleitet, siebenundzwanzig Jahre alt und ein dekorierter Soldat, den die Geheimpolizei nach dem Großen Vaterländischen Krieg angeworben hatte. Innerhalb des MGB , des Ministeriums für Staatssicherheit, war er durch eine Kombination von schlichtem Gehorsam, Glauben an den Staat, dem er diente, und einem extrem wachen Blick für Details aufgestiegen. Sein Pflichteifer beruhte nicht auf Ehrgeiz, sondern auf der aufrichtigen Verehrung seines Heimatlandes, des Landes, das den Faschismus besiegt hatte. Gutaussehend und ernsthaft wie er war, besaß er das Gesicht und den Geist eines Propagandaplakats, ein kantiges Kinn und geschwungene Lippen, auf denen stets eine Parole lag.
In seiner kurzen Karriere beim MGB hatte Leo die Sichtung von vielen hundert Tagebüchern überwacht und war Tausende von Einträgen durchgegangen. Er hatte unermüdlich jeden verfolgt, dem antisowjetische Agitation vorgeworfen wurde. An das erste Tagebuch, das er untersucht hatte, dachte er wie an eine erste Liebe zurück. Sein Mentor Nikolai Borisow hatte es ihm gegeben, und es hatte sich als schwieriger Fall erwiesen. Leo hatte auf den Seiten nichts Belastendes gefunden. Danach hatte sein Mentor das Tagebuch gelesen und die scheinbar unschuldige Bemerkung unterstrichen:
6. Dezember 1936:
Gestern wurde Stalins neue Verfassung angenommen. Ich empfinde das Gleiche wie das ganze Land, d. h. vollkommene, unendliche Freude.
Borisow las aus diesem Satz keine glaubhafte Freude heraus. Dem Schreiber ging es eher darum, seine Gefühle denen des restlichen Landes anzugleichen. Das war rein strategisch gedacht und zynisch, eine hohle Erklärung, die nur die Zweifel des Autors verbergen sollte. Benutzt jemand zum Ausdruck echter Freude eine Abkürzung – d. h. –, bevor er seine Emotionen beschreibt? Genau diese Frage wurde dem Verdächtigen anschließend im Verhör gestellt.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Wie fühlen Sie sich im Moment?
VERDÄCHTIGER: Ich habe nichts Unrechtes gemacht.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Das habe ich nicht gefragt, sondern: Wie fühlen Sie sich?
VERDÄCHTIGER: Ich bin beunruhigt.
VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Natürlich, das ist völlig normal. Aber sehen
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