Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
nachmittags nach Hause kommen. Sie sind von Entertainment abhängig und haben den Kontakt zu ihrer inneren Welt verloren. Eltern, welche die Erzieher und Lehrer ihrer Kinder respektieren und ihnen vertrauen, versuchen diese nachzuahmen: Sie bieten ihren Kindern zu Hause weitere äußere Stimuli an – und merken, dass ihre Kinder danach lechzen. Das Ergebnis ist eine erschreckend große Zahl von Kindern, die »außer sich selbst« und nicht in der Lage sind, den Weg zurück zu sich selbst zu finden. Zudem hat sich die Zahl der Kinder verdreifacht, die mit ernsten, durch Stress verursachten Symptomen und Zuständen in Kliniken landen. Die Kinder verlieren den Kontakt zu ihren Emotionen und zu dem, was sie (auch noch) sind – von ihrer Konsumenten-Identität mal abgesehen. [14]
Dies ist ein ernsthaftes Problem! Ich glaube, wir müssen die Ziele unserer Vorschul-Pädagogik überdenken, denn diese Ziele sind in einer Periode festgelegt worden, in der Kinder chronisch unterstimuliert wurden. Zudem müssen wir Eltern auf den grundlegenden Unterschied zwischen einem Zuhause und einer Institution aufmerksam machen. Insbesondere Letzteres erweist sich als dringlich, da Politiker beschlossen haben, dass Kindergärten und Vorschulen den gleichen Lehrplan haben sollen, wie wir ihn bislang nur von Schulen kennen – und ich versichere jedem, dass keiner dieser Politiker für die Kinder da sein wird, wenn sie zusammenbrechen oder als Teenager in Wut ausbrechen.
Wenn Kinder den Kontakt zu ihrem Inneren verlieren oder zu ihrer Essenz, schrumpft gleichsam ihre Empathiefähigkeit, und sie beginnen so zu agieren wie Erwachsene in Großstädten, die an einer auf der Straße liegenden und blutenden Person vorbeigehen; sie sind so beschäftigt, dass sie den leidenden Menschen gar nicht bemerken, geschweige denn, dass sie ihm helfen.
Wie die Kapitelüberschrift andeutet – Empathie ist ein effektives Gegengift gegen Gewalt. Dies wird einem klar, wenn man sich das Projekt der kanadischen Lehrerin Mary Gordon »Die Ursprünge der Empathie« vor Augen hält. In diesem Projekt verbringen einige unterprivilegierte Schulkinder ein paar Stunden pro Monat mit demselben Baby; ihre Beobachtungen, Eindrücke und emotionalen Reaktionen helfen ihnen, ihre Empathiefähigkeit wiederherzustellen und ihre Aggression zu reduzieren. Zu Recht erhielt Mary Gordon für ihre Arbeit zahlreiche Auszeichnungen im In- und Ausland.
Abgesehen davon, dass man mit Empathie Gewalt und Aggression in allen ihren Äußerungsformen vorbeugen kann, finde ich, dass Empathie eine Eigenschaft ist, die auf der ganzen Welt unterbewertet wird. Je seltener sie wird, desto mehr steigen die Kosten für Gesundheit und soziales Wohlergehen in den einzelnen Ländern – und die letzten beiden Wirtschaftskrisen haben uns gezeigt, wohin so etwas führen kann. Aggressiven und gewalttätigen Kindern mit Empathie zu begegnen scheint ein bescheidener Anfang zu sein, aber es ist ein entscheidender Schritt.
VII. Wenn dein Kind aggressiv ist
Eine junge Mutter schrieb mir: »Unsere Tochter ist neun Monate alt und schläft gewöhnlich nur dann ein, wenn ich sie stille. Das ging eine lange Weile so. Und jetzt mache ich mir Sorgen, dass sie wütend auf mich sein wird, wenn ich aufhören werde, sie zu stillen, und ich gebe zu, ich würde es mir wünschen, dass sie in ihrem eigenen Bett einschlafen könnte. Ich habe das bislang einige Male versucht, doch sie wird sehr wütend auf mich – und das gefällt mir gar nicht. Wie kann ich sie dazu bringen, dass sie, ohne gestillt zu werden, in ihrem Bett einschläft und dass sie versteht, dass es auch für sie gut so ist?«
Meine Antwort fiel länger aus, als ich sie hier wiedergebe. Aber im Zusammenhang dieses Buches interessiert uns nur der kurze Abschnitt zur »Wut« der kleinen Tochter: »Bis jetzt warst du für die Sorge, Aufmerksamkeit, Liebe und Sicherheit deiner Tochter die Hauptquelle, und ich kann dir versichern, dass ihr eure Gewohnheit, sie vor dem Schlafengehen zu stillen, keineswegs geschadet hat. Es gibt viele verschiedene Philosophien über die Einschlafroutine, und mir ist nicht aufgefallen, dass eine Routine der anderen überlegen wäre. Was sie alle gemein haben, ist der Begriff selbst: »Routine«. Manchmal wird stattdessen der Begriff »Ritual« verwendet. Die Forderung, eine Routine zu entwickeln, hast du also erfüllt. Du kannst beruhigt sein!
Meine Sorge betrifft eher den Punkt, dass du zu glauben scheinst, deine Tochter
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