Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Bestrafung als Folge haben sollte, denn gerade solche Reaktionen könnten den Prozess verlangsamen und die weitere Entwicklung behindern oder sogar unmöglich machen.
Es ist nicht immer leicht, ein Tabu zu brechen oder uns von destruktiven Ideen zu befreien, da sie letztlich immer von unserem Bedürfnis, wertvoll zu sein, generiert werden. In diesem Fall allerdings haben uns die Fakten gezeigt, dass weder das Tabu noch die Art, wie wir damit umgehen oder wie wir versuchen, Aggression vorzubeugen, hilfreich sind. Die Studie der Vereinten Nationen »Gewalt gegen Kinder in Schule und in Bildungseinrichtungen« legt zweifelsohne offen, dass wir nicht so erfolgreich waren, wie wir es gerne gewesen wären. Zudem zeigt sie, dass das Verhalten der Erwachsenen einschließlich ihrer Art, mit verbaler und körperlicher Gewalt sowie mit indirekter Aggression Führung auszuüben, ausschlaggebend dafür ist, dass aggressives und gewalttätiges Verhalten unter Kindern und Jugendlichen auftaucht.
Unsere Kindertagesstätten sowie Schulen haben eine lange und unglückliche Geschichte pädagogischen Scheiterns hinter sich, wenn es darum geht, mit Phänomenen umzugehen, die als »böse« oder »gefährlich« gelten – sei es Gewalt, Mobbing, Alkohol- oder Zigarettenkonsum, Essstörungen, Sexualität, rücksichtsloses Autofahren oder Drogen. Die gängige Methodologie beschränkte sich auf: Zurechtweisen (»Predigen«), Informieren, Verbieten und Organisieren von Gegenkampagnen. Der bessere Weg wäre, Pro-Kampagnen zu schaffen. Das heißt nicht, »gutes« Verhalten zu promoten, statt vor »schlechtem« zu warnen, sondern einfach nur für ein dem Leben zugetanes Verhalten zu werben und es in der Kultur der jeweiligen Institution zu integrieren – angefangen mit dem Verhalten und der Haltung jedes Erwachsenen gegenüber den einzelnen Kindern. Sich politisch korrekt zu verhalten ist damit nicht gemeint.
Eine Pro-Leben-Kultur setzt auf die Resilienz jedes Menschen – egal, ob Erwachsener oder Kind. In der obenerwähnten Studie wird sie wie folgt definiert: Sie ist die Fähigkeit des Kindes »erfolgreich mit den alltäglichen Herausforderungen einschließlich der Lebensübergänge, der Zeiten mit sich anhäufendem Stress und mit einschlägigen Nöten oder Risiken zurechtzukommen. Gewöhnlich erkennt man resiliente Kinder an ihrem hohen Selbstwertgefühl, ihrer inneren Überzeugungskontrolle, ihrem Optimismus und ihrer klaren Ambition, Leistung und Zielorientierung, an ihrer Reflexion und Fähigkeit, Probleme zu lösen, an ihren gesunden Kommunikationsstrukturen und an ihrer Fähigkeit, vorbildliche Beziehungen zwischen Erwachsenen zu suchen.«
Die Idee, Kinder darin zu begleiten, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, ist brandneu und demnach noch nicht so vertraut, aber es gibt für mich keinen Zweifel: Selbstwertgefühl zu entwickeln, sollte für uns als Eltern und Pädagogen der Hauptfokus sein, nichts kann Gewalt und Aggression effektiver vorbeugen. Das heißt, dass die Haltung der Erwachsenen gegenüber aggressivem kindlichem Verhalten sehr viel differenzierter und empathischer betrachtet werden muss, als es das gegenwärtige Tabu erlaubt. Kinder zu involvieren und sicherzustellen, dass ihre Stimme gehört wird, würde nicht zuletzt den Erwachsenen selbst zugutekommen.
Aus all dem folgt, dass wir als Erwachsene unsere eigenen Reaktionen – emotionale wie kognitive – hinterfragen müssen. Welches ist die Quelle meiner antiaggressiven Haltung?
Ist sie moralisch?
Ist sie philosophisch oder politisch?
Ist sie in meinen Kindheitserfahrungen zu finden?
Ist sie geschlechtsspezifisch?
Ist sie in dem Kulturkreis, in dem ich lebe, zu finden?
Entscheidend ist, dass sich insbesondere Erwachsene, die als Erzieher, Lehrer und Pädagogen tätig sind, dieser Fragestellung bewusst werden. Tun sie das nicht, werden die Kinder und Jugendlichen, mit denen und für die sie arbeiten, Opfer ihrer Projektionen bleiben. Und damit büßen sie ihre Professionalität ein.
Nachwort
Jesper Juuls Buch über das »neue und gefährliche Tabu« namens Aggression fängt mit der letzten Zeile an: Erwachsene, die mit Kindern arbeiten, kontinuierlich oder sporadisch mit ihnen zusammen sind, sie begleiten und anleiten, lässt es nicht los!
Zugegeben, es leuchtet ein, dass sich Erzieher, Lehrer, Pädagogen und Eltern über Kinder freuen, die stets lächeln, fröhlich und strahlend auf sie zugehen. Das wahre Glück auf Erden scheint in solchen Situationen
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