Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
vor ernsthaften Schwierigkeiten bewahren und gilt in beiden Fällen – wenn dein Kind seine Aggression auslebt oder wenn es sie verinnerlicht.
Sei neugierig und interessiert – das heißt, habe das Wohlbefinden deines Kinder aus seiner Perspektive im Blick. Stell dir vor, wie es ist, eine Meile in seinen Schuhen zu laufen!
Denk über eure Familiensituation der letzten sechs Monate nach. Wie ist es dir selbst gegangen, wie deinem Partner, wie eurer Beziehung? Hattest du finanzielle Probleme oder hat einer von euch beiden den Job verloren? Hat einer eine Affäre? Vergiss nicht, dein Kind hat rund um die Uhr Zugang zu deinen innersten Gefühlen und Stimmungen – auch zu jenen, vor denen du es schützen möchtest.
Schau dir deine Art zu leben genauer an! Bist du mit ihr zufrieden, oder ist sie viel zu aufreibend und stressig? Wie viele Kompromisse machst du, und inwiefern schadest du deinem eigenen Wohlbefinden? Vergiss nicht, Kinder können nicht in der Zukunft leben, so wie das vielen Erwachsenen gelingt. Kinder leben im Hier und Jetzt.
Untersuche die wichtigsten Beziehungen deines Kindes! Wer sind seine besten Freunde, und wie geht es ihnen?
Verbring eine Weile im Kindergarten oder in der Schule und finde heraus, welche Stimmung dort herrscht und wie die Erzieher oder Lehrer sich auf dein Kind beziehen. Irgendwo muss es ein kleines (oder großes) Loch geben, durch das sein Selbstwertgefühl entweicht – doch ist das gewiss niemandes bewusste Absicht.
Versuche nicht Antworten zu finden, indem du dein Kind zur Rede stellst. Wenn es nämlich in der Lage wäre, sich in einer verständlichen Sprache auszudrücken, würde es keine anderen Signale benötigen. Wenn du es jedoch mit einer Theorie oder Antwort konfrontierst, erklär sie ihm und lerne aus seinen Reaktionen.
Dein grundlegendes Werkzeug ist deine Empathie – deine Fähigkeit, die Welt des Kindes durch seine Augen zu sehen und durch seine Persönlichkeit zu erfahren. Die Psychologie ist stolz darauf, alle Antworten geben zu können, nur weil sie die sogenannte »Perspektive des Kindes« erfunden hat. Hier ist ein Beispiel dafür, was die Perspektive eines Kindes wirklich ist, wenn sie von einem Kind formuliert wird.
Ein dreijähriger Junge nahm mit seinen Eltern und vielen anderen Erwachsenen an einem großen Picknick in einem Wald teil. Plötzlich war der Junge verschwunden und nicht ausfindig zu machen. Da es Anfang März war und die Temperatur recht niedrig, wurde ein Suchtrupp, bestehend aus Polizei, Helikopter und Freiwilligen, ausgesandt, um ihn zu finden. Als es dunkel wurde, hatte man ihn immer noch nicht gefunden. Erst am nächsten Morgen stolperte ein Mann, der im Wald reiten wollte, über ihn. Dem Jungen war nichts zugestoßen, er war in guter Stimmung und Verfassung. Einige Tage später besuchte ein öffentliches Fernsehteam die Familie, und die Reporterin fragte den Jungen: »Wie kam es denn, dass du verschwunden bist?« Der Junge sah die Reporterin an und antwortete: » Ich bin nicht verschwunden, meine Eltern sind verschwunden!«
Das ist die Perspektive eines Kindes, und als Eltern, Erzieher, Lehrer und Pädagogen müssen wir uns das merken und uns vom Kind helfen lassen, bevor wir in Aktionismus verfallen – nur um möglichst wertvoll zu erscheinen.
Die meisten Erwachsenen – sowohl Eltern als auch Erzieher, Lehrer und Pädagogen – gehen durch Phasen, in denen sie cholerisch, gereizt, frustriert, ja sogar selbstdestruktiv sind; sie wollen, dass nichts nach außen dringt. Es gibt keinen Grund, zu glauben oder zu suggerieren, dass Kinder anders wären als Erwachsene. Nur äußern sich Kinder meist direkter und offener. Der Versuch, ihr Verhalten als psychosoziales Problem darzustellen, geht am Thema vorbei und fügt ihm einen weiteren problematischen Aspekt hinzu.
VIII. Schlusswort
Gegen die Auffassung, dass wir in unseren Familien, Institutionen und unserer Gesellschaft so wenig destruktive Aggression wie möglich antreffen wollen, habe ich nichts einzuwenden. Allerdings müssen wir anerkennen, dass aggressive Gefühle in der Entwicklung sowie im Reifungsprozess eines Kindes sowie eines unreifen Erwachsenen immer in einer destruktiven oder selbstdestruktiven Form ausgedrückt werden.
Der emotionale wie geistige Prozess, konstruktive von destruktiver Aggression zu unterscheiden und zu integrieren, verläuft progressiv und dauert eine ganze Kindheit. Das ist ein natürlicher Prozess, der nicht zum moralischen Thema werden und
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