Agnes Bernauer - Hexe Hure Herzogin
tiefste und atavistischste Grund dafür, dass die Bürger bei Albrechts Anblick dermaßen außer Rand und Band gerieten.
Die beiden schwäbischen Kleinadligen, die ihre Lanzen eben noch mit Anstand gebrochen hatten, sahen sich plötzlich an den Rand des Geschehens abgedrängt. Kein Mensch beachtete sie mehr, als sie den Platz sang- und klanglos räumten. Der Wittelsbacher indessen beendete nunmehr seinen Umritt und nahm seinen Standort unter einem der Spitzbogenerker des bischöflichen Palastes ein. Dort hatte sich zwischenzeitlich auch Albrechts Gefolge versammelt und hatte das Münchner Banner mit den weiß-blauen Rauten und den goldenen Löwen aufgepflanzt.
Der Turniergegner des Herzogs, ein Graf aus der Umgebung der Reichsstadt, führte silbern und purpurn den Greif im Panier. Vor dem Stadthof seines Geschlechts, genau gegenüber dem sakralen Areal, flatterte das Fahnentuch im Februarwind. Auf das Paradieren, das ihm nach dem Codex ebenso wie dem Wittelsbacher zugestanden hätte, hatte der Adlige aus den Lechauen verzichtet; in bester courtoiser 6 Manier hatte er so die feudale Rangordnung dokumentiert. Doch nun ließ der Graf seinen Rotfuchs kapriolen und sich halb bäumen und zeigte dadurch wiederum an, dass er vor dem Höheren keinesfalls zu kuschen gedachte und ihm im Stechhof beileibe nichts schenken würde.
Vor der Tribüne, auf der die Patrizier, Kleriker und nicht am Turnier beteiligten Adligen samt ihren Gattinnen oder Mätressen thronten, schmetterten die Fanfaren los. Die beiden Gepanzerten senkten die bewimpelten Stoßwaffen zum Gruß gegeneinander. Mit dem nächsten Lidschlag ruckten die Schildarme der Ritter nach oben; mit metallischem Knallen schlossen sich die Visiere. Die schweren Kaltblüter galoppierten an, entwickelten sofort ihre äußerste Geschwindigkeit, rasten wie zottige vorzeitliche Kolosse aufeinander zu. Die Menge, seltsamerweise, verhielt sich jetzt still; etwas wie tausendfach gepresster Atem schien geballt über dem weiten Platz zu lasten.
Gepresst auch der Atem dessen, der in der stählernen Zwängung gefangen war. Albrecht, Herzog von Bayern-München und Graf von Vohburg, verspürte jäh wieder und stärker noch als unter der Seilwinde die malefizische Beklemmung. Das tobende, schütternde, kreischende Eisen schien sich ihm einzusägen ins Fleisch, schien ihn zu messern, zu säbeln. Dazu das Dröhnen im Schädel; das Dröhnen, das ihm aus der Helmwölbung ins Gehirn drang wie Paukenschläge, wie teuflisches Trommeln. Jedes Aufschmettern der Rosshufe tausendfach und bis zum Wahnwitz verstärkt. Blutrotes und Höllenschwarzes irgendwo hinter den Augen, grässlich grell durchblitzt. Dieses Blitzgewittern einen fast schon unerträglichen Druck erzeugend, der durch die Schleuse der Pupillen nach draußen drängen wollte; ins Freie, in die Erlösung, zur kühlen Luft – und der trotzdem gekerkert blieb hinter der vermaledeiten Gitterung des Visiers. Dort, an dieser allerschlimmsten Zwängung, rannte Albrechts zerspellter Blick sich nun fest, und in der kurzen, nichtigen Zeitspanne, bis es zum Lanzenbrechen kommen sollte, verwischte sich dem Wittelsbacher die Perspektive auf die Welt.
Das mulmbedeckte Pflaster des Stechhofes ein Abgrund; ein kotig-bräunlicher und zugleich steinsplittriger Pfuhl. Die Fassaden der Patrizierhäuser, der Adelshöfe wänstig aufgetrieben, wie reife Pestbeulen zerplatzt; gleichzeitig zerschwertert, schartig zerstriemt. Keine Säule mehr sicher, kein Erker, kein Fensterkreuz mehr am gottgewollten, unabdingbaren Platz. Ein Brunnen vorbeifegend, eine Heiligenstatue darauf, aber der bronzene Strahlenschein zu blasphemischem Natternzüngeln verzerrt. Wasserfäden, zerklirrend in den gepeinigten Augen des Reiters zu gnadenlos nadelndem Schmerz. Ein Tavernenportal gleich einem Kerkerschlund, tief drinnen bestachelt wie die tödlichen Körperhälften einer Eisernen Jungfrau 7 . Facettenartig danebengelagert in einem verknäuelten menschlichen Rudel: Fratzen, Nachtmahre, Dämonen – und doch, vom verstörten Verstand her, nichts weiter als die eben noch vertrauten Gesichter von Bürgern. Jetzt aber deren Einswerden mit Wasserspeiern, mit umloderten Seelenantlitzen im Fege- oder Höllenfeuer, mit seifig-grünem verflüssigtem Fleisch, das lange nach der Hinrichtung von einer Galgenkette floss. Gleich darauf das tiermenschliche Konglomerat sich neblig verschlierend wieder, hinters Gittrige und kantig Löchrige wegstürzend – doch aus dem Verquellen, dem
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