Agnes: Roman (German Edition)
hatte meine Spannung gelöst, und ich konnte wieder arbeiten, ohne dauernd zu ihr hinüberzuschauen. Tat ich es dennoch, erwiderte sie meinen Blick freundlich, aber ohne zu lächeln. Ich blieb länger, als ich vorgehabt hatte, und als Agnes endlich ihre Sachen zusammenpackte, fragte ich sie flüsternd, ob sie morgen wieder hier sein werde.
»Ja«, sagte sie und lächelte zum erstenmal.
3
Am nächsten Tag war ich schon früh in der Bibliothek, und obwohl ich Agnes erwartete, hatte ich keine Mühe, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich wußte, daß sie kommen würde und daß wir reden würden miteinander, eine Zigarette rauchen, einen Kaffee trinken. In meinem Kopf war unsere Beziehung viel weiter gediehen als in Wirklichkeit. Ich begann schon, mir über sie Gedanken zu machen, hatte schon Zweifel, dabei hatten wir uns noch nicht einmal verabredet.
Ich kam mit der Arbeit gut voran, las, machte mir Notizen. Als Agnes gegen Mittag erschien, nickte sie mir zu. Wieder legte sie ihren Schaumstoffkeil auf einen Stuhl in meiner Nähe, breitete ihre Sachen aus wie am Tag zuvor, nahm ein Buch und begann zu lesen. Nach vielleicht einer Stunde zog sie ihre Zigaretten aus dem Rucksack, blickte kurz darauf und dann zu mir herüber. Wir standen beide auf und gingen, den breiten Tisch zwischen uns, auf den Hauptgang zu, der die Mittelachse des Raumes bildet. Ich begleitete sie zum Kaffeeautomaten, wieder verschüttete sie etwas Kaffee, wieder setzten wir uns auf die Treppe vor der Bibliothek. Am Tag zuvor war Agnes eher scheu gewesen, jetzt sprach sie viel und mit einer Hast, die mich erstaunte, da wir über belanglose Dinge redeten. Sie war unruhig, und doch schienen wir – ohne mehr zu wissen als unsere Namen – über Nacht vertrauter miteinander geworden zu sein.
Agnes sprach von einem Freund, Herbert, ich weiß nicht mehr, wie wir auf ihn kamen. Dieser Herbert hatte kürzlich ein seltsames Erlebnis gehabt. Er habe, erzählte Agnes, in einem Café in der Lobby eines großen Hotels etwas getrunken. An einem Nachmittag.
»Ich bin selbst ein paarmal mit ihm dort gewesen«, sagte Agnes, »es gibt einen Pianisten und die besten Cappuccinos der Stadt. Von der Lobby führen ein paar Stufen ins Café hinunter, an einem Springbrunnen vorbei, und als Herbert die Treppe hinabging, kam ihm eine Frau entgegen. Sie war nicht älter als er und trug ein schwarzes Kleid. Als er die Frau gesehen habe, sagte Herbert, habe er sich ganz seltsam gefühlt. Eine Art Traurigkeit, aber auch Geborgenheit. Es sei ihm gewesen, als kenne er die Frau. Dabei sei er sicher gewesen, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Er habe sich jedenfalls ganz schwach gefühlt und sei auf der Stelle stehengeblieben.«
Agnes drückte ihre Zigarette auf der Treppe aus und warf den Stummel in den leeren Kaffeebecher.
»Auch die Frau blieb stehen«, erzählte sie weiter. »Einige Sekunden lang standen die beiden sich so gegenüber. Dann ging die Frau langsam auf Herbert zu. Dicht vor ihm hob sie die Hände, legte sie auf seine Schultern und küßte ihn auf den Mund. Er habe seine Arme um sie gelegt, sagte Herbert, aber sie habe sich losgemacht und sei einen Schritt zurückgetreten. Herbert trat zur Seite, und die Frau lächelte und ging weiter, die Treppe hinauf. Als sie an ihm vorbeiging, strich sie kurz mit der Hand über seinen Arm.«
»Eine seltsame Geschichte«, sagte ich, »hat er versucht herauszufinden, wer sie war?«
»Nein«, sagte Agnes, und plötzlich schien es ihr peinlich zu sein, daß sie mir die Geschichte erzählt hatte, und sie stand auf und sagte, sie müsse jetzt zurück an die Arbeit.
Als wir uns tags darauf zum drittenmal trafen, fragte ich Agnes, ob sie nicht Lust habe, mit mir in den Coffee Shop gegenüber zu gehen.
»Dort wird der Kaffee serviert«, sagte ich, »dann machst du dir einmal nicht die Hände schmutzig.«
Wir gingen über die Straße. Agnes bestand darauf, den Fußgängerstreifen zu benutzen und bei der Ampel zu warten, bis diese auf Walk wechselte.
In dem Coffee Shop trank ich seit Wochen fast jeden Morgen meinen Kaffee und las die Zeitung. Er war ziemlich schäbig, und die dicken roten Kunstlederbänke waren zu weich und unangenehm tief angebracht. Der Filterkaffee war dünn und oft bitter, weil er zu lange auf der Wärmeplatte gestanden hatte, aber ich mochte das Lokal, weil mich noch immer keine der Kellnerinnen kannte und mit mir zu plaudern versuchte, weil mir kein Lieblingstisch freigehalten wurde und weil ich jeden
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