Ahnentanz
er vermutlich, dass sie in größerer Gefahr wäre, wenn sie erfuhren, dass sie mit einem Konföderierten verheiratet war“, erzählte Kendall. „Ich denke, das war der Grund dafür.“
„Ich finde, wir sollten ihren Namen berichtigen, was meinst du?“, fragte Aidan.
Kendall war überrascht. Er war ihr niemals sentimental erschienen, erst recht nicht bei Dingen, die mehr als ein Jahrhundert zurücklagen.
„Das wäre eine nette Geste“, stimmte sie zu.
Sie nahmen sich ein paar Wasserflaschen und gingen dann müde die Treppe hoch. Doch kaum hatten sie das Schlafzimmer erreicht, lagen sie einander in den Armen. Ihre Beziehung war noch so frisch, dass allein jede Berührung sie alles andere vergessen ließ. Seine Lippen auf ihrer nackten Haut fühlten sich wie Blitzeinschläge an. Sie fragte sich, ob sie seiner jemals überdrüssig würde, und konnte es sich einfach nicht vorstellen. Niemals würde sie genug bekommen von seiner Stimme, seinem Blick, seinem Lachen. Er liebte sie erst mit heftigem Begehren und dann noch einmal mit einer fast andächtigen Zärtlichkeit, doch jeder Höhepunkt war gleichermaßen überwältigend.
Sie würde es niemals müde werden, neben ihm zu liegen oder zu spüren, wie sie eins waren. Und der Schlaf … selbst der Schlaf war in seinen Armen besser. Tiefer, vollkommen.
Bis sich der Traum einstellte.
Sie hatten vorher Fionas Porträt betrachtet. Das erklärte die erste Vision in ihrem Traum. Sie war einfach nur da, beobachtete, wie eine Fliege an der Wand, wie ein Paar Augen im Wind. Sie hörte das Trommeln von Pferdehufen, dann waren da Schreie und Männer in Unionsuniform. Nur ein einziger Mann, der aussah wie Aidan, war in Braun und Grau gekleidet, die Abzeichen seiner Uniform waren verschlissen und schmutzig. Es war sein Pferd, das sie gehört hatte, als er an das Haus herangaloppiert war. Und dort, auf dem oberen Balkon, stand eine schöne Frau in Weiß. Fiona.
Doch da war noch jemand. Jemand hinter Fiona.
Und dann hörte sie eine Stimme flüstern.
Ich wusste, dass ich sterben würde. Ich musste sterben, weil
ich vermutet hatte, was vor sich ging. Ich war draußen auf dem Friedhof. Er hatte schon vorher Frauen dorthin gebracht, sie missbraucht und zerstückelt … Kannst du mich hören? Ich konnte es damals nicht aufhalten, und nun geschieht es wieder. Jemand muss es jetzt aufhalten. Kannst du mich hören? Oh bitte, kannst du mich hören?
Sie hörte Gewehrschüsse, die neben ihr zu explodieren schienen.
Das nächste Bild war wie ein Traum im Traum.
Fiona in ihrem weißen Kleid lief über den Balkon und dann … dann fiel sie und überschlug sich in Zeitlupe, fast als ob sie fliegen würde.
Ein einzelner Schrei ertönte.
Kannst du mich hören?
Die Szenerie verblasste, veränderte sich.
Der Mann war dort.
Der Mann mit der milchkaffeebraunen Haut und den traurigen Augen. Er beugte sich über die Frau und weinte.
Wieder veränderte sich die Szenerie, und sie glaubte, gleich aufzuwachen. Sie wollte aufwachen, denn selbst im Schlaf erinnerte sie sich, dass sie das Tagebuch hatte und dass es wichtig war, es zu lesen. So wichtig.
Doch sie wachte nicht auf. Stattdessen schlich sie vorwärts, wobei sie den Strahl ihrer Taschenlampe nach unten hielt. Sie suchte jemanden. Sie wusste nicht, wen, doch sie war aufgeregt. Aufgeregt wegen des Briefes. Er musste von einem Kollegen stammen. Jemand, der sie an der Lösung eines historischen Rätsels beteiligen wollte, jemand, der den Besitz betreten und Beweiseaus der Vergangenheit ausgegraben hatte. Sie glaubte zu wissen, um wen es sich handelte.
Und er mochte sie. Sie kicherte fast bei dem Gedanken.
Sie hörte, wie ein Name in der Nacht gerufen wurde. Kendall versuchte, besser hinzuhören. Sie kannte den Namen, doch es war nicht der ihre.
„Komm. Beeil dich.“
Die Stimme kam vom Friedhof.
Der Teil von ihr, der auch im Traum noch immer Kendall war, wusste es plötzlich. Wusste, dass sie sterben würde, wenn sie der Stimme folgte. Dichter, grauer Nebel umwaberte sie, und dann waren da Knochen, Leichen, Gesichter, die alle aus der Erde kamen. Sie warnten sie, sie solle sich fernhalten, doch die Frau, die sie in dem Traum war, schien sie nicht wahrzunehmen.
Sie wollte die Frau, die sie geworden war, innehalten lassen, doch es war vergeblich.
Sie würde sterben.
Sie konnte ihren Körper nicht aufhalten, sie musste aufwachen. Das war die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben.
„Kendall!“
Sie hörte ihren Namen,
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