Akte X
zum Bericht
Danach begann sie sich zu quälen. Sie blätterte in einem der letzten Beweisstücke, die die Polizei von Traverse City gefunden hatte. Ein Beweisstück, das ein wenig Licht in die Angelegenheit zu bringen schien. Erneut wandte sie sich ihrer Tastatur zu.
Nach seinem Tod wurde unter Schnauz'
Hinterlassenschaften sein Tagebuch gefunden. Es ist in der zweiten Person geschrieben worden und soll dem Anschein nach einen offenen Brief an seinen Vater darstellen. In ihm sind die Namen all seiner Opfer vermerkt - der Frauen, die er zu „retten“ versucht hat. Mein Name ist Bestandteil seiner letzten Eintragung.
Nun zog Scully das Foto hervor, das Mulder in der Fotokabine der Drogerie geschossen hatte, und sie fragte sich, ob sie dieselben Hinweise wie er in diesem Bild entdeckt hätte. Vermutlich nicht.
Vielleicht hätte sie den Winnebago auf eine andere Art gefunden, doch dessen konnte sie nicht sicher sein. Sie wußte nur, daß sie trotz aller Meinungsverschiedenheiten froh war, Mulder zum Partner zu haben.
Scully breitete die restlichen Fotos vor sich aus: Officer Trott, erschossen; das nachgebesserte Bild von Schnauz' Vater; Mary Lefante, umschwirrt von den Heulern.
Ich habe keine Erklärung für das Zustandekommen dieser Fotografien, und ich glaube auch nicht, daß ich eine finden werde.
Während meiner Gefangenschaft war ich gezwungen,
Schnauz zu verstehen und sogar mit ihm zu fühlen
- mein Überleben hing davon ab. Nun erkenne ich den Wert einer solchen Einsicht. Wir müssen die Monster verstehen, die wir zur Strecke bringen wollen. Wir müssen uns in sie hineinversetzen.
Scully hörte zu tippen auf. Indem sie sie zu Papier brachte, hatte sie die Gedanken, die unaufhörlich in ihrem Kopf kreisten, aus ihrem Bewußtsein vertreiben wollen. Tatsächlich aber tänzelte sie nur um das herum, was sie eigentlich sagen wollte ... um den einen Punkt, der sie am meisten beunruhigte.
Sie las, was sie bisher geschrieben hatte, und sah ein, daß sie hier und jetzt keine Antworten finden würde. Was blieb, war die alles entscheidende Frage.
Aber... wenn wir uns in ihre Gedanken vorwagen, riskieren wir dann nicht, daß sie sich auch in die unsrigen einschleichen?
Scully sicherte die Datei und klappte den Laptop zu. Als sie die Bestandteile der Akte zusammenräumen wollte, fielen ihr einige weitere Bilder in die Hände. Es waren die Fotos, die Schnauz in der letzten Stunde seines Lebens von sich selbst gemacht hatte, jener Stunde, in der er Scully in seiner Gewalt gehabt hatte und beinah ausgelöscht hätte. Sie entfernte die Büroklammer und fächerte die Fotos auf.
Die Bilder zeigten den toten Schnauz. Er lag merkwürdig verdreht am Boden, während sich eine Blutlache über sein Arbeitshemd und den Overall ausbreitete. Einige Polaroidfotos umgaben seinen Kopf gleich einem Nimbus. Außerdem waren der Fuß des Zahnarztstuhls und ein Beutel mit Insulinampullen deutlich zu erkennen.
Die Fotos stimmten bis ins kleinste Detail mit den Beweisaufnahmen überein, die die Spurensicherung nach ihrer Befreiung durch Mulder gemacht hatte.
Aber Scully interessierte ein Aspekt jenseits dieser doch eigentlich unmöglichen Vorausschau von Schnauz' Tod. Auf den Bildern gab es keine Heuler. In seinen Allmachtsphantasien hatte Schnauz geglaubt, an den entführten Frauen eine Dämonenaustreibung vornehmen zu müssen -
allerdings sich selbst, sich selbst hatte er offensichtlich nicht als rettungsbedürftig betrachtet.
Scully seufzte. Sie griff nach der Kette, die von ihrer antiken Schreibtischlampe herabbaumelte, und löschte das Licht. Für einen Augenblick hinterließ es einige flackernde Bilder auf ihrer Retina, doch auch diese verschwanden schnell.
Schließlich tastete sich Scully durch das vertraute Terrain zu ihrem Bett und kroch hinein. Nun würde sie endlich Ruhe finden.
ENDE
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