Akte X
zu haben.“
Mary dachte an Billy, der voller Unruhe im Wagen wartete. Schon vor Wochen hatte er sich darauf vorbereitet, das Land zu verlassen. Er war nun einmal ein nervöser Typ, doch sie war froh, daß wenigstens einer von ihnen die Dinge im Blick behielt. Marys Problem war, daß es hier Menschen gab, die sie vermissen würde. Sie hatte Traverse City schätzen gelernt, während dieser Ort für Billy schon immer zu klein gewesen war. Zu langsam.
Billy konnte es nicht erwarten, endlich nach Holland zu kommen. Seit sie das erste Mal über den Plan gesprochen hatten, redete er nur noch von Amsterdam.
Die Türklingel läutete ein weiteres Mal, und Mary registriert eine vermummte Gestalt in einem gelben Regenmantel, die das Geschäft betreten hatte.
Sie sah zur Glastür hinaus und beobachtete die Straße. Erst die Stimme des Drogisten riß sie aus ihren Gedanken.
„Sieht aus, als würde es sich aufklaren. Könnte doch noch ein schöner Tag werden.“ Mary erwiderte sein Lächeln.
„Das macht sechs fünfundneunzig.“ Mary wühlte in ihren Hosentaschen, doch ihre Finger griffen ins Leere. Für einen Moment schloß sie die Augen und schüttelte verärgert den Kopf: Sie hatte das Portemonnaie im Auto vergessen.
Billy würde ausflippen.
„Ich habe mein Geld im Auto vergessen“, entschuldigte sie sich. „Ich bin sofort wieder da.“ Der alte Mann zog amüsiert die Brauen hoch.
„Ich werde auf Sie warten“, versprach er.
Während Mary zur Tür hinausstürzte und dabei ihren Schirm aufspannte, räumte der Drogist die Kamera weg. Dann wandte er sich um, um den anderen Kunden zu bedienen, doch die Gestalt in dem Regenmantel hatte den Laden gleich nach der Frau wieder verlassen.
Wütend über ihre eigene Sorglosigkeit stapfte Mary durch den Regen. Sie fürchtete sich vor Billys Reaktion. Mit wehenden Haaren eilte sie den Bürgersteig entlang auf die Ecke zu. Der Regen prasselte geräuschvoll auf ihren Schirm herab, und so hörte sie die Schritte nicht, die hinter ihr herankamen. Als jemand an ihr vorbeihastete, fühlte sie einen stechenden Schmerz in der Schulter.
„Au! Hey, du Blödmann!“ schimpfte Mary, aber die gelbgekleidete Gestalt marschierte weiter, ohne sich umzusehen.
Für einen kurzen Moment blieb Mary stehen und fragte sich, warum die Person gar nicht reagierte. Sie tastete mit der Hand nach der schmerzenden Stelle und stellte verwundert fest, daß sie Blut an den Fingern hatte. Völlig überraschend wurde ihr schwindelig. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, und sie zwinkerte heftig mit den Augenlidern. Sie wollte schreien, der Welt mitteilen, was mit ihr geschah, doch sie bekam nur ein einziges gehauchtes Wort heraus: „Was ...?“ Schwankend stolperte sie durch eine schlammige Pfütze auf Billys Wagen zu. Als sie näherkam, konnte sie seinen Hinterkopf durch die Heckscheibe erkennen. Aus dem geborstenen Fenster auf der Fahrerseite wehte die dünne Rauchfahne vom Qualm seiner Zigarette.
„Billy!“ flüsterte Mary mit letzter Kraft.
Verschwommen kam ihr der Gedanke, daß sie unter Drogen stehen könnte. Mit letzter Willenskraft überwand sie die Distanz zu Billys Wagen, und als sie bei dem VW angekommen war, mußte
sie sich anlehnen, um nicht
zusammenzubrechen.
Warum drehte sich Billy nicht um? Warum konnte er sie nicht hören?
Mary packte den Türgriff, öffnete die Tür und hatte Billys Gesicht direkt vor sich. Seine Augen standen weit offen, aber sie erkannte sofort, daß er tot war. Blut floß aus einer Wunde in seinem linken Ohr. Gemeinsam mit dem Regenwasser hatte es sein weißes T-Shirt in ein groteskes Rosa getaucht. Die Zigarette, die noch in seinem linken Mundwinkel hing, war zu einem Stummel abgebrannt und verschmorte seinen ungepflegten Schnurrbart.
„Billy!“
Wieder versuchte Mary zu schreien, aber sie brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande. Mit weit aufgerissenen Augen sackte sie gegen den Wagen und sah sich mit wilden Blicken auf dem Parkplatz um. Dann versuchte sie zu laufen, doch sie stolperte, stürzte auf das Pflaster und schürfte sich Ellbogen und Kinn auf. Unfähig, sich zu erheben, rollte sie auf die Seite. Der Regen klatschte ihr ins Gesicht, und sie rang japsend nach Luft. Im
düsteren Licht des verregneten
Nachmittags bemerkte sie schließlich eine alte, schwarze Limousine, die auf sie zukam - endlich Menschen, endlich jemand, der ihr helfen würde.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen, um den Wagen herbeizuwinken. Das Fahrzeug wurde langsamer und
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