Akte X
war, erklärte das immer noch nicht, warum. Nichts an Schnauz' Handlungen hatte auf eine Verbindung zum Buch der Offenbarung hingewiesen, einer Verbindung zu der Zahl des Bösen. Schnauz hatte Religion mit keinem Wort erwähnt. Konnte es sich um eine Adresse handeln? Das wäre wichtig genug, um sich im Unbewußten des Mörders einzunisten. Mulder mußte logisch denken - und er wünschte sich, Scully wäre bei ihm, damit er seine Gedanken mit ihr teilen und sich von ihr und ihren kritischen Fragen lenken lassen könnte. Das half ihm stets, seine Theorien zu präzisieren. Ihre Einwände disziplinierten sein Denken.
Mulder schüttelte die Grübeleien ab und begann von vorn, in der Hoffnung, doch noch etwas zu entdecken, was ihm zuvor entgangen war.
Zunächst fragte er sich, was Schnauz zu seinen Taten veranlaßt hatte. Der Selbstmord seiner Schwester? Nein. Viele Menschen hatten eine solche Zerreißprobe überstanden, ohne Mordlust zu entwickeln und ohne den eigenen Verstand zu verlieren. Andererseits hatte Schnauz seinen Vater kurz nach dem Suizid seiner Schwester beinahe mit dem Stiel einer Axt erschlagen.
Warum? Zuerst hatte Mulder angenommen, daß das biochemische Ungleichgewicht in Verbindung mit dem Streß, den der Selbstmord seiner Schwester ausgelöst hatte, Gerry ganz einfach um den Verstand gebracht hatte. Doch was wäre, wenn Gerry seinen Vater für den Tod seiner Schwester verantwortlich machte?
Der Vater! Schnauz hatte jahrelang den Nachruf auf seinen Vater bei sich getragen. Mulder nahm den Ordner von der Heizung und blätterte darin, bis er den Artikel fand. Das körnige Schwarzweißfoto von der Beerdigung des älteren Schnauz enthielt keine offensichtlichen Hinweise.
Dennoch brütete Mulder stur über dem Bild.
Dann blieb sein Blick an den Grabsteinen hängen: identische, weiße, hohe, abgerundete Steine, die vage an Finger erinnerten. Laut zählte Mulder die Grabmale.
„Eins, zwei, drei, vier, fünf... fünf Grabsteine“, murmelte er.
Die Stimmen der Polizisten aus dem Büro der alten Praxis erregten Mulders Aufmerksamkeit. Er sah auf und erblickte den Schriftzug mit dem Namen GERALD SCHNAUZ - und plötzlich war ihm alles klar.
„Mit dem Vater sind es sechs“, schloß er, während er herumwirbelte und aus dem Gebäude hinausstürmte.
„Gehen wir!“ rief Corning, und die Cops setzten sich in Bewegung. Corning hatte keine Ahnung, wohin sie fahren würden, doch er war erpicht darauf, dort
so schnell wie möglich
anzukommen. Wieder brüllte er: „Gehen wir!“ 15
Sechs große weiße Grabsteine standen nah beieinander auf dem Friedhof. In jeden war der Familienname Schnauz eingemeißelt worden, und der Stein in der Mitte markierte das Grab von Gerrys Vater. Mulder blickte sich um und erhielt einen flüchtigen Eindruck von der beachtlichen Größe der Gedenkstätte. Der Friedhofswärter hatte ihm erzählt, daß beinahe siebentausend Menschen in dieser Erde ruhten. Die sanften Hügel des Friedhofs strahlten in sattem Grün, und Mulder konnte aus der Ferne das Geräusch eines Rasensprengers hören. Über dem Feld, über dem sich die Sonnenstrahlen im Wasserdunst brachen, sah er das farbenfrohe Prisma eines Regenbogens.
Diesen Ort abzusuchen, würde eine Ewigkeit dauern, vermutete er. Dabei wußte er nicht einmal genau, nach was sie überhaupt suchen sollten -
und dennoch: Es mußte getan werden.
Mulder rief den Polizisten Anweisungen zu.
„Verteilen Sie sich. Bleiben Sie in Deckung.
Kontrollieren Sie die Baumreihen und die Nebengebäude.“
Corning und die übrigen Cops schwärmten rasch aus. Mulder blieb allein bei den Gräbern zurück und ließ seine Augen erneut über das weitläufige Gelände schweifen. Auf einer Seite blockierten Hügel das Blickfeld, auf der anderen standen Bäume im Weg. Eine Gruppe besonders protziger Grabsteine versperrte die Sicht auf der dritten Seite. Nur aus einer Richtung hatte er freie Sicht auf die Gräber der Schnauz-Familie.
Mulder verengte die Lider und sah in einiger Entfernung einen Parkplatz. Große und kleine Wagen waren dort abgestellt worden, aber der Subaru, den Schnauz als letztes benutzt haben sollte, war nicht dabei.
Doch etwas anderes erregte Mulders Aufmerksamkeit und zog ihn magnetisch zu dem Parkplatz hinüber.
Gerry Schnauz starrte sichtlich erschüttert auf das Polaroidfoto in seiner rechten Hand. In der Linken hielt er drei weitere Fotografien, die er alle von sich selbst aufgenommen hatte. Jedesmal hatte er den Aufnahmewinkel
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