Akte X
sank wieder in seinen Schreibtischsessel - ein Durchschnittsmodell, denn er hatte für Extravaganzen nichts übrig - und schob das Band in den Videorecorder. Er hatte von diesem Band gehört, es persönlich aber noch nie gesehen. Nachdem Lentz die Schärfe und Lautstärke eingestellt hatte, lehnte er sich zurück und sah gebannt zu:
In dem klinisch sauberen und hell erleuchteten Labor lief der Hund in seinem Käfig - der für größere Tiere konstruiert war - unruhig auf und ab. Er winselte zweimal und wedelte unsicher mit dem Schwanz, als hoffte er, daß seine Gefangenschaft bald endete.
»Guter Junge, Vader«, sagte David Kennessy und trat in den Erfassungsbereich der Kamera. »Mach Platz.«
Kennessy durchschritt den Raum, fuhr sich mit der Hand durchs dunkle Haar und wischte einen Schweißfilm von seiner Stirn. Oh, er war nervös, das stand fest - auch wenn er sich großspurig und zuversichtlich gab. Darin Kennessy - vielleicht der schlauere von beiden Brüdern - hatte vor einem halben Jahr die Forschung aufgegeben und war verschwunden. David war weniger klug gewesen. Er hatte weitergemacht.
Viele Leute waren sehr an dem interessiert, was dieser Mann vollbracht hatte, und er hatte offenbar das Gefühl, es mit einem Videoband beweisen zu müssen. Allerdings wußte Kennessy nicht, daß der Erfolg seinen eigenen Untergang heraufbeschwor. Er hatte zuviel erreicht, und er hatte die Leute, die nie richtig daran geglaubt hatten, daß er es schaffen würde, in Angst und Schrecken versetzt.
Aber Lentz wußte, daß der Sohn des Forschers todkrank war, und wahrscheinlich war er deshalb bereit gewesen, inakzeptable Risiken einzugehen. Das war gefährlich.
Kennessys Hand verdeckte das Blickfeld, als er an der Kamera hantierte und sie ein Stück zur Seite drehte. Neben ihm, dicht am Hundekäfig, stand der breitschultrige technische Assistent Jeremy Dorman wie Igor neben seinem geliebten Frankenstein.
»In Ordnung«, sagte Kennessy in das Mikrofon des Cam-corders. Im Hintergrund summten die Laborgeräte, rauschte die Klimaanlage, lärmten die Laborratten in ihren Käfigen. »Heute nacht erwartet Sie eine ächte Spitzenshow!«
Als würde sich noch irgend jemand an Ed Sullivan erinnern, dachte Lentz.
Kennessy baute sich vor der Kamera auf. »Ich habe meine Forschungsergebnisse längst in allen Einzelheiten dokumentiert und eingereicht. Aber diese Fortschrittsberichte wurden entweder nicht gelesen oder zumindest nicht verstanden. Ich bin es leid, daß meine Memos unter den Papierstapeln auf Ihrem Schreibtisch verschwinden. Wenn man bedenkt, daß dieser Durchbruch das Universum, wie wir es kennen, grundlegend verändern wird, sollte man erwarten, daß irgend jemand seine Kaffeepause unterbricht und einen Blick auf die Unterlagen wirft.«
Oh nein, Dr. Kennessy, dachte Lentz, während er den Bildschirm im Auge behielt, Ihre Berichte sind nicht verschwunden. Wir haben sie sehr sorgfältig studiert.
»Das sind alles Bürokratenhengste, David«, brummte Dorman. »Sie können nicht erwarten, daß sie verstehen, was sie finanzieren.« Dann schlug er die Hand vor den Mund, als wäre er entsetzt, daß er eine derartige Bemerkung vor der laufenden Kamera gewagt hatte.
Kennessy warf einen Blick auf seine Uhr und sah dann Dorman an. »Sind Sie bereit, Mr. Dorman?« Der große Laborassistent zuckte zusammen und legte seine Hand auf den Drahtkäfig. Der schwarze Labrador
preßte seine Schnauze gegen Dormans Handfläche und schnüffelte. Dorman fiel fast in Ohnmacht. »Sind Sie sicher, daß wir es wirklich tun sollen?« fragte er.
Kennessy musterte seinen Assistenten mit unverhüllter Verachtung. »Nein, Jeremy. Ich werde einfach aufgeben, meine Forschungen einstellen und Jody sterben lassen. Vielleicht sollte ich kündigen und staatlich geprüfter Buchhalter werden.«
Dorman hob in resignierter Verlegenheit die Hände. »Schon gut, schon gut - es war nicht so gemeint.«
Im Hintergrund, an einer der Kellerwände aus Spritzbeton, hing ein Poster von Albert Einstein und einem Mann, dessen Gesicht nur wenige Leute kannten - K. Eric Drexler. Einstein übergab ihm eine Kerze, während Drexler wiederum dem Betrachter eine Kerze entgegenhielt. Kommt, greift zu! Drexler war vor einigen Jahren einer der ersten großen Visionäre der Nanotechnologie gewesen.
Wirklich bedauerlich, daß wir ihn nicht rechtzeitig erreicht haben, dachte Lentz.
Vader sah seinen Herrn erwartungsvoll an und setzte sich dann in der Mitte seines Käfigs hin.
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