Der Ramses-Code
I
Der Geburt des kleinen Jean-François ging eine seltsame und, bedenkt man die Umstände, in die er hineingeboren werden sollte, höchst unglaubwürdige Prophezeiung voraus, an die sich sein Bruder Jacques-Joseph erst Jahre später wieder erinnern sollte. Die anderen, die sie hörten, der Rest der Familie also, namentlich ihr Oberhaupt, der Buchhändler Jacques Champollion, sowie die alte Courbier, die Nachbarin, eine zahnlose Witwe, sie alle nahmen die wunderlichen Orakelworte damals nicht zur Kenntnis, weil diese ihnen viel zu absurd erschienen, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Vor allem Jacques Champollion hielt es für aberwitzig, an die bevorstehende Existenz eines neues Familienmitgliedes zu glauben, denn Jeanne, seine Gattin, war erstens 42 Jahre alt, zweitens nicht schwanger und drittens so schwer erkrankt, daß er um ihr Leben zu fürchten begann.
Die Gemahlin des Buchhändlers hatte sich an einem eisigen Januartag des Jahres 1790 mit plötzlich auftretendem heftigem Fieber in das eheliche Schlafzimmer zurückgezogen und war seither nicht mehr aufgestanden. Die Champollions bewohnten am Rande des 10 000-Seelen-Städtchens Figeac zu Füßen des Auvergne-Gebirgsstockes ein altes, zweietagiges Haus mit flachem Ziegeldach, einer das obere Stockwerk umlaufenden Galerie und spitzbogig gemauertem Eingangstor. Es stand am Ende einer dunklen Gasse namens la Bodousquerie, was darauf hinwies, daß hier vor Zeiten Naturwachs gegossen worden war.
Jeanne Champollion war eine schmächtige Frau mit blassem Teint und vollem schwarzem Haar. Das Fieber ließ ihr Antlitz wächsern erscheinen; es überschüttete die Kranke mit heftigen Schauern, zwischen denen sie in völliger Apathie versank. Die beiden Ärzte, nach denen Jacques Champollion an zwei aufeinanderfolgenden Tagen schickte, verkündetenunabhängig voneinander, daß es sich um ein »rheumatisches Fieber« handle, gegen das sie nicht viel zu tun wüßten.
»Wird sie sterben?« hatte der Buchhändler, ein vierschrötiger Mensch mit finsteren Zügen und starker Neigung zur Melancholie, beide Male gefragt, wobei sich Entsetzen auf sein Gesicht malte, denn er liebte seine Frau. Das wisse Gott allein, hieß jedesmal die Antwort. Was sie brauche, sei Ruhe und wärmeres Wetter. Wenn der Frühling zeitig käme und ihr den Frost aus dem Leib nähme, könnte sie es überstehen. Die Doktoren verschrieben Einreibungen und kalte Umschläge, nahmen ihr Salär in Empfang und gingen.
Stumpfen Blicks saß der Buchhändler am Bett seiner Frau, deren Nase spitz aus dem bleichen Gesicht hervortrat, die Augen blickten trübe ins Nichts. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, und zum Sprechen fehlte ihr die Kraft.
»Wird sie sterben?« fragte Jacques-Joseph den Vater mit bebender Stimme. Jacques Champollion zuckte mit den Schultern und schob den Zwölfjährigen und seine drei kleinen Schwestern behutsam aus dem Schlafzimmer im ersten Stock, das nun, wie die Dinge lagen, zum Sterbezimmer werden sollte.
Da kam der alten Courbier, die sich wieder einmal nach dem Befinden der Kranken erkundigt hatte, eine Idee. »Jacqou«, raunte sie beschwörend, »warum holt ihr nicht Jacqou?«
»Wie, diesen absonderlichen Narren?« fragte der Buchhändler erstaunt.
»Er ist absonderlich, aber gewiß kein Narr«, entgegnete die Alte. »Dein Weib wäre nicht die erste, die er kuriert. Außerdem kann er in die Zukunft schauen. Er ist ein Zauberer!«
Den letzten Satz hatte sie geflüstert, und der junge Jacques-Joseph erschauerte.
»Er wird sie zu Tode kurieren!« knurrte der Buchhändler. »Dieser Mensch kommt mir nicht ins Haus.«
»Vielleicht kann er wirklich helfen!« flehte Jacques-Joseph.
»Der Kerl ist mir unheimlich.« Der Vater war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. »Außerdem«, lenkte er ein, »weiß ich nicht, wie ich ihn ansprechen soll.«
»Oh, das ist kein Problem«, sagte die Alte. »Ich kann zu ihm gehen. Mich kennt er.«
Jacques Champollion hob verzweifelt die Arme über den Kopf. »Er soll in Gottes Namen kommen«, stieß er hervor.
Jacqou war in der Tat ein absonderlicher Mensch. Unbestimmten Alters, bärtig, das bleiche Gesicht von wirrem Haar umstanden und sommers wie winters stets in eine Art Kaftan gehüllt, wohnte er im uralten und seit langem von den frommen Schwestern verlassenen Kloster Lundieu jenseits des großen Obstgartens, der am Ende der Rue de la Bodousquerie begann. Er sprach selten mit den Leuten, empfing augenscheinlich nie
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