Alarm in Sköldgatan
hatte. Er überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis er Polizeichef sein und wohin er versetzt werden würde.
Jeder hatte seine Sorgen.
Keiner dachte an Malm oder Olofsson oder an das vierzehnjährige Mädchen, das in der Dachkammer des Hauses in Sköldgatan buchstäblich lebendig gebraten worden war.
Jedenfalls sah es nicht so aus.
Am Tag vor Mittsommer, Freitag, dem 21. Juni, tat Martin Beck etwas, was ihm beinahe kriminell vorkam und was er seit seinem fünfzehnten Lebensjahr nicht mehr getan hatte. Damals hatte er die Unterschrift seiner Mutter auf einem Entschuldigungszettel gefälscht, um die Schule zu schwänzen und sich eins von Hitlers Westentaschenschlachtschiffen ansehen zu können, das zu einem Flottenbesuch in Stockholm lag.
Was er tat, war eigentlich nebensächlich, und viele hätten kein Wort darüber verloren. Tatsächlich war es nicht mal strafbar, denn Lügen ist nicht ungesetzlich, wenn man nicht vorher die Hand auf die Bibel legt und verspricht, die Wahrheit zu sagen.
Er sagte ganz einfach zu seiner Frau, daß er nicht mit ihr und Rolf aufs Land fahren könne, da er dienstlich verhindert sei.
Das war eine rosarote Lüge, er sprach sie mit lauter und klarer Stimme aus und blickte dabei seiner Frau tief in die Augen. Am Tag der Sommersonnenwende, dem längsten und schönsten des Jahres. Außerdem war diese Lüge das Resultat einer Verschwörung oder eines Komplotts, in das eine weitere Person eingeweiht war, die versprochen hatte, den Mund zu halten und sich nichts anmerken zu lassen, wenn peinliche Fragen gestellt würden.
Dieser Mensch war auch noch stellvertretender Kriminalkommissar.
Er hieß Sten Lennart Kollberg, und seine Rolle als Anstifter war so offenbar, daß man sie nicht mal als zweideutig bezeichnen konnte.
Für die Verschwörung hatte es zwei verschiedene Gründe gegeben. Einerseits hatte Martin Beck überhaupt keine Lust, zwei, schlimmstenfalls drei Tage mit seiner Frau und seinem versoffenen Schwager zu verbringen. Tage, die sich noch mehr in die Länge zogen, weil seine Tochter Ingrid, die seine Laune hätte aufbessern können, einen Sprachkurs in Leningrad mitmachte. Auf der anderen Seite konnte Kollberg frei über das Sommerhaus seiner Schwiegereltern in Södermanland verfügen und hatte bereits erhebliche Mengen Lebensmittel und Getränke dorthin transportiert.
Obwohl er also gute, zumindest verständliche Gründe für sein Verhalten hatte, kam ihn das ungewohnte Lügen hart an. Viel später sollte er auch einsehen, daß dieser Augenblick der Auftakt zu einer Entwicklung war, die sein ganzes weiteres Leben veränderte.
Das alles hatte nichts damit zu tun, daß er bei der Polizei war, denn es gibt keinen Grund für die Annahme, daß Polizisten weniger lügen als andere Menschen und schwedische Polizisten weniger als ausländische. Tatsächlich deutet manches darauf hin, daß es sich eigentlich eher umgekehrt verhält.
Für Martin Beck war es einfach eine Frage der persönlichen Moral. Er traf eine Entscheidung und rechtfertigte sie vor sich selbst, und damit hatte er eine bestimmte grundsätzliche Einstellung erschüttert. Ob das für sein privates Gleichgewicht ein Gewinn oder Verlust war, mußte die Zukunft zeigen. Jedenfalls erlebte er zum erstenmal seit sehr langer Zeit ein schönes und sorgenfreies Wochenende. Der einzige trübe Punkt war die Lüge, aber dieses Unbehagen konnte er vorläufig ohne große Schwierigkeiten verdrängen. Kollberg war ein As, als Organisator wie auch als Verschwörer, und bei der Zusammenstellung der Gesellschaft hatte er eine glückliche Hand. Das Wort Polizei wurde so gut wie gar nicht erwähnt, und der Gedanke an die tägliche Arbeit, den ebenso verhaßten wie alles überschattenden Dienst, war im großen und ganzen verbannt.
Nur einmal kam das Gespräch darauf, als Martin Beck in der Abenddämmerung mit Äsa Toreil und Kollberg und einigen anderen im Gras saß und den Maibaum betrachtete, den sie aufgerichtet und um den sie sogar getanzt hatten. Sie waren alle etwas müde, und die Mücken machten ihnen zu schaffen, da konnte er die Frage nicht unterdrücken: »Glaubst du, daß wir noch mal dahinterkommen, wer der Kerl in Sundbyberg eigentlich ist?«
Kollberg schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nee!«
Und Äsa Toreil fragte: »Welcher Kerl in Sundbyberg?« Sie war eine tüchtige junge Frau und sehr wißbegierig.
Da sagte Kollberg plötzlich: »Also, ich glaube, daß der ganze Fall direkt vor unserer Nase explodiert.
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