Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
»Ich lese im Äther. Energie strömt in die Leere ein.« Sie wies hinter sich auf den Baum und auf den Geisterstrom, dann wandte sie sich wieder dem roten Mond zu. »Aber irgendetwas zieht sie auch wieder zurück.«
Elena sah sie stirnrunzelnd an. »Zieht sie wieder zurück?«
Die Anspannung drohte Chos Mondsteingesicht zu sprengen. Sie gestikulierte mit ihren Geisterhänden, bemühte sich, etwas in Worte zu fassen, wofür es keine Worte gab. »Zwei Ströme. Einer hinein, der andere hinaus beide an einem Ort.« Wieder huschte ihr Blick zum Mond. »Die Energie verwirbelt.« Sie versuchte das Worte mit den Händen zu veranschaulichen.
»Ein Strudel?« fragte Er’ril.
Cho legte den Kopf schief, als lausche sie in sich hinein. »Ja … ein Strudel.«
Elena runzelte die Stirn. »Aber warum? Wenn Geistenergie einströmt, wodurch wird dann die Energie der Leere abgezogen?«
Cho begann zu flimmern, ihre Züge verschwammen. Er’ril hatte inzwischen genügend Erfahrung mit dem Geist gesammelt, um zu erkennen, dass er zornig war. »Ich weiß es nicht!« schrie Cho. »Aber ich werde es herausfinden!«
»Wie?« fragte Elena.
Wieder legte Cho den Kopf schief, aber diesmal drückte die Geste aus, die Frage sei sinnlos … oder die Antwort verstehe sich von selbst. »Ich kehre in die Leere zurück.« Die Mondsteingestalt wirbelte davon.
»Warte!« rief Elena. »Was soll das heißen?«
Cho wandte sich, ein Wesen auf halbem Wege zwischen Stofflichkeit und reiner Energie, noch einmal um. »Dieser schändliche Frevel bedroht alles … mich, meinen Bruder, meine und eure Welt. Ich muss fort.«
Der Geist fegte, ein Komet in Frauengestalt, in einem Lichtwirbel auf den Baum zu, umflog ihn und strebte zum Himmel empor.
»Sie schwimmt im Strom der Geister mit«, sagte Elena und sah ihr nach.
Er’ril beobachtete, wie die Lichtgestalt sich dehnte und Baum und Mond wie ein flimmerndes Seil miteinander verband. Eine kleine Ewigkeit lang verharrte sie so, zitternd, zum Zerreißen gespannt.
Dann wurde das Seil mit einem Laut durchtrennt, den kein Ohr vernahm, der aber Er’ril eine Gänsehaut verursachte. Cho war verschwunden.
Stille legte sich wie dichter Nebel über die Szene.
Joach brach endlich das Schweigen. »Der Koa’kona hat seine Energien abgegeben.«
Alle Augen richteten sich auf den Baum. Erst jetzt erkannte Er’ril, wie absolut die Stille eben noch gewesen war. Rodricko hatte aufgehört zu singen und war auf die Knie gesunken. Er’ril betrachtete den Baum. Sämtliche Blüten erstrahlten in sattem Violett, eine Gischt von blitzenden Edelsteinen auf einem dunkelgrünen Meer. Keine einzige war schwarz geblieben.
»Es ist vollendet«, sagte Ni’lahn. Sie zitterte vor Erleichterung. »Alle gefangenen Geister sind frei.«
»Aber der Mond blutet noch immer«, stellte Harlekin fest.
Er’ril schaute zum Himmel. Der Mond zeigte tatsächlich nach wie vor die roten Flecken. Das Loch hatte sich nicht geschlossen. Elena hatte Recht gehabt. Mit der Durchtrennung der Brücke war die Gefahr nicht gebannt.
Hinter ihm keuchte Elena erschrocken auf.
Er drehte sich um. Sie starrte nicht wie die anderen den Mond an, sondern das Buch des Blutes, das aufgeschlagen in ihren zitternden Fingern lag.
»Die Seiten …«, murmelte sie und streckte es ihm entgegen.
Er’ril riss die Augen auf. Der Schein der Fackeln fiel nur auf weißes Pergament.
Das Fenster zur Leere war verschwunden.
4
Kast und Prinz Tyrus eilten durch die Tiefen der Burg. Eine dringende Nachricht von Saag wan hatte Kast von seiner Besprechung mit den Kielmeistern der De’rendi fortgerufen. Die Mer Frau hatte ihm ausrichten lassen, Bruder Ryn habe an dem Schwarzsteinei eine Entdeckung gemacht, und er würde sofort gebraucht. Auch Tyrus war bei der Besprechung gewesen, um den Einsatz seiner Piraten auf den der Blutreiter abzustimmen. Nun begleitete er Kast wegen des Mannes, der ihnen beiden folgte.
»Xin, bist du sicher?« fragte der Prinz noch einmal.
Der Zo’ol nickte. »Ich spürte eine Finsternis, ein Aufwallen des Bösen. Ein Flackern wie von einer Dunkelfeuerkerze … Dann war es vorüber. Aber es war keine Einbildung. Es war wirklich.«
Kast sah den Schamanen nachdenklich an. Der Oberkörper des Mannes war nackt. Ein einzelner Zopf hing ihm, verziert mit Federn und Muschelstückchen, über die Schulter. Seine Haut glänzte in dem dunklen Gang so schwarz wie Ebenholz, und die helle Narbe auf seiner Stirn, das Symbol eines sich öffnenden Auges, schien
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