Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
heraus und trug ihn ausgestreckt vor sich her, bis er die beiden Gänge erreichte. Als er den Stein auf den linken Gang richtete, leuchtete er heller.
Im Vertrauen darauf, dass ihn der Kristall zur Geistpforte führen würde, wandte er sich dorthin.
Weiter ging es durch ein endloses Labyrinth von kreuz und quer verlaufenden Gängen. Endlich sah er vor sich einen Lichtschein: nicht rötlich wie das Licht des Herzsteins, sondern grün wie von phosphoreszierenden Schraubenalgen.
Entschlossen ging er weiter und entdeckte, woher die Helligkeit kam. Der Tunnel war hier über und über mit augenlosen, daumenlangen Glühwürmern bedeckt. Sie krochen in Scharen über Boden, Wände und Decke und hinterließen grünlich leuchtende Spuren auf dem blanken Fels.
Tol chuk schnitt eine Grimasse. An diese Bewohner der Tiefe hatte er nicht mehr gedacht. Beim Weitergehen zerquetschte er sie mit seinen bloßen Füßen. Magnam hatte ihm erzählt, die Tiere seien immer dort aufgetaucht, wo eine Herzsteinader entdeckt und abgebaut worden war. Warum sie sich hier sammelten, wusste er nicht.
Das Herz in der ausgestreckten Hand vor sich her tragend, setzte Tol chuk seinen Weg fort. Bald waren die Würmer so zahlreich, dass er die Fackel nicht mehr brauchte. Er ließ sie an einer Kreuzung zurück.
Seine Haut glänzte von Schweiß und Wurmschleim. Er glaubte schon, sich in dem Labyrinth verirrt zu haben, doch mit einem Mal wurde der Tunnel wieder höher und mündete in eine riesige Höhle.
Tol chuk blieb am Eingang stehen, richtete sich auf und schaute in den Raum. Mit einem Mal loderte der Herzstein in seiner Hand auf wie von einem frischen Luftzug angefacht, und sein Licht strahlte in jeden Winkel des weiten Gewölbes.
Der Schein erreichte die Rückwand der Höhle und offenbarte, was sich dort verbarg: ein Bogen aus reinem Herzstein. Die beiden Pfeiler erglänzten im Wurmlicht, jede Facette sprühte Feuer.
Überwältigt von dieser Pracht hob Tol chuk die freie Hand, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, ging aber mutig weiter, ohne den Stein zu senken.
Als das Licht auf ihn fiel, überkam ihn der nun schon vertraute Frieden, der stets einherging mit dem Gefühl des Einsseins mit allem Leben. Selbstvergessen stand er da und schwelgte in diesem Glück.
»Tol chuk …«
Er schrak zusammen. Die Höhle war doch leer.
»Tol chuk, höre uns an.«
Er zwang seine Gedanken zurück in das Felsenreich der Glühwürmer und erkannte, dass die Stimme aus dem Herzstein in seiner Hand kam. Wieder löste sich der dunkle Nebel aus dem Stein; er entfaltete sich und trieb auf die Geistpforte zu. Vor dem mächtigen Bogen hielt er an und bildete einen brodelnden Wirbel.
»Noch wagen wir nicht hinüberzugehen«, flüsterten die Geister der Triade. Tol chuk hörte die Sehnsucht in ihren Worten. »Denn vorher müssen wir dir noch etwas kundtun.«
Der Nebel zerfiel abermals in drei Stränge, schwebte zu Boden und nahm dort die Gestalt der altersgebeugten Og’er Greise an. »Tritt vor die Geistpforte.«
Tol chuk zögerte. Er hatte den Bogen einmal durchschritten und spürte kein Verlangen, die Erfahrung zu wiederholen.
Einer der Schatten wandte sich ihm zu und sah ihn an. Die Augen leuchteten im gleichen Grün wie die Glühwürmer. Hatte Magnam nicht auch diese Erscheinung erwähnt? Die Worte des Zwerges klangen ihm in den Ohren. Wenn man sich lange genug in der Nähe der Würmer aufhält, überträgt sich ihr Leuchten irgendwann auf die eigenen Augen. Es heißt, dann könne man nicht nur in diese, sondern auch in die nächste Welt … in die Zukunft sehen.
Als Tol chuk diese Augen jetzt auf sich gerichtet sah, erschien ihm das durchaus glaubwürdig.
»Komm«, flüsterte die Gestalt. Zum ersten Mal hörte er ein einzelnes Wesen sprechen, statt alle drei Schatten zugleich. »Es ist Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.«
Die beiden anderen Geister schwebten auf den Bogen zu, und jeder verschwand in einem Pfeiler wie vorher in Tol’chuks Herzstein.
Tol chuk blieb mit dem letzten Mitglied der Triade allein zurück.
Von dem Bogen an der Rückwand der Höhle stieg ein tiefes Summen auf, das immer lauter wurde. Bald konnte Tol chuk Worte unterscheiden Worte in einer uralten Sprache, die er nicht verstand. Der Sprechgesang wanderte an den Pfeilern empor, und nach einer Weile erhob sich wie ein Echo eine neue Stimme, die älter war als jede Sprache, und nahm die Beschwörung auf. Sie brachte die ganze Höhle zum Schwingen. Tol chuk spürte sie bis
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