Alaska-Kid - V3
Füße und Finger abschneiden lassen mußten. Zufällig war die Nacht, in der das Wettrennen stattfand, die kälteste des ganzen Jahres. Vor Tagesanbruch zeigten die Alkoholthermometer in Dawson eine Temperatur von siebzig Grad Fahrenheit unter Null. Und die Männer, die an dem Rennen teilnahmen, waren mit wenigen Ausnahmen Leute, die erst kürzlich ins Land gekommen waren und deshalb gar nicht wußten, wie man sich in solcher Kälte verhalten sollte.
Den nächsten, der das Rennen aufgegeben hatte, fanden sie einige Minuten später, als ein Streifen des Nordlichts vom Horizont bis zum Zenit wie der Lichtstrahl eines Scheinwerfers aufblitzte. Der Mann saß auf einem Eisblock am Wege.
»Nur immer los, Schwester Mary«, begrüßte Kurz ihn heiter. »Lauf weiter. Wenn du da sitzen bleibst, bist du bald steif wie ein Kirchturm.«
Der Mann gab keine Antwort, und sie blieben stehen, um ihn zu untersuchen.
»Steif wie ein Schürhaken«, lautete Kurz' Urteil. »Wenn du ihn umstülpst, bricht er mittendurch.«
»Sieh mal nach, ob er noch atmet«, sagte Kid, während er mit entblößten Händen durch den Pelz und die wollene Jacke das Herz suchte.
Kurz schob seine rechte Ohrklappe hoch und legte das Ohr an die vereisten Lippen.
»Keine Spur«, berichtete er.
»Das Herz schlägt auch nicht mehr«, sagte Kid.
Er zog sich wieder die Handschuhe an und schlug die Hand einige Minuten mit der anderen energisch, ehe er sie wieder der Kälte aussetzte, um ein Streichholz anzuzünden. Es war ein alter Mann, und es bestand kein Zweifel, daß er schon tot war. In der Minute, in der ihn das Licht des Zündholzes beleuchtete, sahen sie einen langen grauen, bis zur Nase von Eis überkrusteten Bart. Die Wangen waren weiß wie der Schnee, und die Augen, deren Wimpern voller Eisklumpen hingen, waren zugefroren. Dann erlosch das Streichholz.
»Komm«, sagte Kurz und rieb sich das Ohr. »Wir können dem alten Esel ja doch nicht mehr helfen. Und ich bin überzeugt, daß mein Ohr erfroren ist. Jetzt wird sich die verfluchte Haut abschälen, und es wird eine ganze Woche weh tun.«
Als einige Minuten später wieder ein Lichtstreifen sein zitterndes Feuer über den Himmel warf, erblickten sie zwei Gestalten vielleicht eine Viertelmeile vor sich auf dem Eis.
Sonst war auf eine Meile im Umkreis nichts zu sehen, das sich regte.
»Das sind die Anführer der ganzen Kolonne«, sagte Kid, als es wieder dunkel wurde. »Los, daß wir sie kriegen!«
Als sie noch eine halbe Stunde gegangen waren, ohne sie einzuholen, begann Kurz zu laufen.
»Wenn wir sie auch erreichen, werden wir sie doch nie überholen«, erklärte er. »Donnerwetter, was für ein Tempo! Ich halte Dollars gegen Pfeffernüsse, daß das keine Chechaquos sind. Die sind vom richtigen alten Sauerteig, darauf kannst du dich in die Nase beißen.«
Als sie endlich die beiden erreichten, hatte Kid die Führung, und er freute sich aufrichtig, als er etwas langsamer gehen konnte, um Schritt mit ihnen zu halten. Er hatte gleich den Eindruck, daß die Person, die ihm am nächsten schritt, eine Frau war. Wie er zu dieser Überzeugung kam, konnte er freilich nicht sagen. Eingehüllt in Kopftuch und Pelzwerk, sah die Gestalt aus wie jede andere, aber es war etwas an ihr, das ihm bekannt vorkam, und er konnte dieses Gefühl nicht abschütteln. Er wartete den nächsten Lichtstreifen des Nordlichts ab, und bei diesem Schein sah er, wie klein die Füße waren. Aber er sah noch mehr - nämlich den Gang. Und er war sich gleich darüber klar, daß es der unverkennbare Gang war, von dem er einst festgestellt hatte, daß er ihn nie vergessen würde.
»Die marschiert aber gut«, vertraute Kurz ihm mit heiserem Flüstern an. »Ich wette, sie ist eine Indianerin.«
»Wie geht es Ihnen, Fräulein Gastell?« begrüßte Kid sie.
»Danke, und Ihnen?« antwortete sie und wandte schnell den Kopf, um ihn zu sehen. »Es ist leider noch zu dunkel, um richtig sehen zu können. Wer sind Sie?«
»Alaska-Kid.«
Sie lachte in die kalte Luft hinaus, und ihm schien, daß er noch nie in seinem Leben ein so herrliches Lachen gehört hätte.
»Und sind Sie schon verheiratet und haben all die Kinder bekommen, von denen Sie mir so Interessantes erzählten?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Wie viele Chechaquos sind noch hinter Ihnen her?«
»Einige Tausend, glaube ich. Wir haben über dreihundert überholt. Und sie verlieren keine Zeit unterwegs.«
»Es ist die alte Geschichte«, sagte sie bitter. »Die
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