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Alaska

Titel: Alaska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Albert Michener
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Scheibe, weiß und knapp zwei Finger breit. Sie war gefertigt aus dem Elfenbein von einem der wenigen Walrosse, die sein Vater jemals getötet hatte, und feine Ornamente waren eingraviert, die den mit Eis bedeckten Ozean darstellten und die Geschöpfe, die in ihm lebten und ihn mit den Eskimos teilten.
    Oogruk hatte seinem Vater dabei zugesehen, wie er die Scheibe Zuschnitt und den Rand glattstrich, damit sie auch gut passte , und da beide von Anfang an erkannt hatten, dass die Scheibe, wenn sie einmal fertig war, etwas ganz Besonderes sein würde, war es nicht Überheblichkeit, als sein Vater ihm vorhersagte: »Oogruk, das wird dir besonders viel Glück bringen.« Ohne das auch nur im geringsten anzuzweifeln, gab der Neunjährige keinen Ton von sich, als der Vater ein scharfes Messer, geschnitzt aus einem Walknochen, hervorholte, die Unterlippe des Jungen durchbohrte und den Schnitt mit etwas Gras zustopfte. Wenn er heilte und die Öffnung größer wurde, jeden Monat wurde eine größere Holzscheibe eingelegt, bildete seine Unterlippe nach einiger Zeit ein schmales Hautband, das wie ein rundes Loch aussehen würde.
    Als etwa die Hälfte der Zeit um war, infizierte sich die Wunde, wie das nicht selten in solchen Fällen geschah, und Oogruk musste sich mit Fieber auf den matschigen Boden legen, Drei Tage und Nächte, während er im Fieber phantasierte, legte ihm seine Mutter Kräuter auf die Lippe und warme Steine an die Füße. Schließlich ließ das Fieber aber wieder nach.
    An einem der nächsten Tage, den er sein ganzes Leben nicht vergessen würde, brachte man Oogruk zu einer finsteren Hütte am Rande des Dorfes und führte ihn feierlich hinein. Es war einer der schmutzigsten und unordentlichsten Orte, die er je gesehen hatte. An einer Lehmwand baumelte ein Skelett, an einer anderen der Schädel eines Seehunds; auf dem Boden lagen dreckige Beutel aus Seehundfell verstreut herum neben anderen stinkenden Fellen, auf denen der Bewohner der Hütte schlief. Es war der Schamane von Pelek, der heilige Mann, der die Beschwörungen sprach, die die Meere besänftigten, und der mit den Geistern redete, die Wale an die Landspitze treiben sollten. Als er aus den Schatten hervortrat und Oogruk gegenüberstand, sah er furchterregend aus - er war groß, hager, die Augenhöhlen lagen tief, und es fehlten einige Zähne, sein Haar war außerordentlich lang und mit einer wahren Schmutzschicht überzogen, die seit Jahren nicht entfernt worden war. Unter unverständlichem Gemurmel nahm er die Scheibe aus Elfenbein zur Hand, sah, wie fein sie gearbeitet war, wunderte sich darüber, wie ein ärmlicher Mann wie Oogruks Vater so ein Schmuckstück besitzen konnte, zog dann die Unterlippe des Jungen herunter und presste mit seinen schmutzigen Fingern die Scheibe in das Loch. Oogruk spürte den Schmerz, als sich das verhärtete Gewebe anpasste und die Scheibe fest in die Lage drückte, die sie sein ganzes Leben lang einnehmen sollte.
    Die Anpassung war schmerzhaft gewesen, aber das musste sein, wenn die Scheibe nicht verrutschen sollte, und als das prachtvolle Schmuckstück endlich festsaß, konnten alle sehen, und manche sahen es mit Neid, dass der kleine Oogruk mit den schielenden Augen, der nichts Besonderes an sich hatte, von jetzt ab einen Schatz mit sich herumtragen würde: den schönsten Lippenpflock der Ostküste Sibiriens.
    Als er jetzt mit seinem Kajak die Bahn des herannahenden Wals kreuzte, lutschte er an der Unterlippe und schöpfte Mut, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Zauberpflock noch da war. Mit seiner Zunge glitt er über das Stück Elfenbein, das auf beiden Seiten verziert war, ertastete den magischen Wal, der dort eingezeichnet war, und er war überzeugt, dass seine Gesellschaft ihm sicher Glück brachte, und er behielt recht, denn als er an dem Wal vorbeipaddelte, so dicht, dass das Ungeheuer mit einem Hieb seiner gigantischen Flosse ihn und den Kajak hätte niederschmettern können, behielt das träge Tier seinen Kopf unter Wasser und ließ sich nicht dazu herab, sich mit dem winzigen Wesen einzulassen, das da oben auf dem Wasser so dicht an ihm vorbeitrieb.
    Kaum hatte er den Kajak sicher vorbeigepaddelt, hob der Wal seinen Kopf aus dem Wasser und öffnete lässig sein Maul, als wollte er gähnen, und Oogruk, der in die Richtung blickte, von wo er das Geräusch spritzenden Wassers vernommen hatte, sah, wie riesig das Maul war, dem er soeben entkommen war, und seine Größe erschreckte ihn. Im Laufe seiner

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