Albtraum
Tränen nicht sahen, eilte sie hinaus in die kühle Nachmittagsluft.
Sie zog ihren Mantel fester um sich. Die Gehwege warenvoller Menschen, die nach einem Arbeitstag heimkehrten. Vor ihr an der Ecke hielt die Straßenbahn der St. Charles Avenue. In ihrem Glas spiegelte sich die Sonne und blendete sie einen Moment. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, die Straßenbahn fuhr vorüber.
Und dann sah sie John.
Er hatte sie gefunden! In Panik wich sie einen Schritt zurück. Er stand auf der anderen Straßenseite, den Kopfleicht abgewandt, und blickte suchend die St. Charles Avenue entlang. Er suchte sie – und einen Ort, an dem er sie töten konnte.
Sie war vor Entsetzen wie gelähmt und spürte ihren Herzschlag bis in den Hals. Wie damals, vor vierzehn Jahren, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er hatte toll ausgesehen, groß, stark und jugendlich. Nicht so verschrumpelt und faltig wie Senator Paxton oder fett und glatzköpfig wie Richter Lambert. John war mit keinem von Mutters anderen Freunden vergleichbar gewesen.
Ihre Mutter hatte sie herbeigerufen und miteinander bekannt gemacht, wobei man ihren Alabama-Akzent gehört hatte.
„Das ist meine Kleine“, sagte ihre Mama. „Meine Julianna.“ Julianna machte einen Knicks und hielt den Blick gesenkt, wie Mama es sie gelehrt hatte.
„Julianna, Liebes, sag hallo zu Mr. Powers.“
„Hallo, wie geht es Ihnen?“ fragte sie mit brennenden Wangen und wollte nichts lieber als ihn ansehen.
„Hallo, Julianna“, erwiderte er. „Es ist mir ein Vergnügen, dich kennen zu lernen.“
Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu, dann noch einen und sagte erstaunt: „Ihr Haar ist ja weiß. Wie Schnee.“
„Ja, das ist es.“
„Wie kommt das?“ Sie zog nachdenklich die Stirn kraus.„Sie sind nicht alt und faltig wie Dr. Walters, und der hat auch weiße Haare.“ Sie hielt den Kopf schief. „Und Sie haben auch viel mehr davon als er.“
Ihre Mutter schnappte nach Luft, und Julianna wusste, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Doch John Powers war nicht ärgerlich. Er lachte, und es klang angenehm. Sie mochte ihn lieber als alle anderen Freunde ihrer Mutter.
Er ging vor ihr in die Hocke und sah ihr in die Augen. Das hatte noch keiner getan. Er tat, als wäre sie etwas Besonderes, als wäre sie so wichtig wie die Erwachsenen.
„Mein Haar wurde über Nacht weiß“, erklärte er. „Ich wäre bei einem Auftrag fast gestorben.“
„Fast gestorben?“ wiederholte sie erstaunt.
„Ja.“ Er beugte sich vor und senkte die Stimme. „Ich habe überlebt, weil ich Käfer gegessen habe.“
„Käfer?“ fragte sie fassungslos.
„Hm. Große, hässliche.“
„Erzählen Sie mir davon.“
„Eines Tages erzähle ich dir alles darüber.“
„Okay“, erwiderte sie und ließ enttäuscht den Kopf hängen.
Er betrachtete sie eine Weile und nahm ihre Hände. „Möchtest du wissen, was ich glaube, Julianna?“ Sie nickte heftig. „Ich glaube, dass wir beide die besten Freunde werden. Würde dir das gefallen?“
Sie streifte ihre Mutter mit einem Blick, merkte, dass sie erfreut war, und sah John Powers an. „Ja, Mr. Powers, das würde mir sehr gefallen.“
Die besten Freunde: der Vater, den sie nie gehabt hatte, ihr Beschützer, ihr Lieb ha ber. John Powers war al les für sie geworden. Und nun wollte er sie töten.
Ein Auto hupte, dann folgte eine laute Verwünschung. Julianna schreckte blinzelnd aus ihren Gedanken hoch. Desorientiert merkte sie, wie die Menschen an ihr vorbeiströmten. Einige warfen ihr neugierige Blicke zu. John, falls er es wirklich gewesen war, war fort.
Sie zog den Mantel noch einmal enger um sich und ging eilig davon.
3. KAPITEL
Julianna fuhr aus dem Schlaf hoch. Die Au gen weit aufgerissen, sah sie sich im dunklen Zimmer um, suchte nach Bewegung, horchte auf Geräusche.
Falls John sie gefunden hatte, würde er sie umbringen. Sie aufschlitzen, wie die anderen Leute auf Clark Russells Fotos.
Widersetz dich mir nicht, Julianna, hatte John sie gewarnt, oder die Konsequenzen werden dir nicht gefallen.
Sie presste die Hände auf die Augen. Nein, John hatte sie nicht gefunden. Wie sollte er auch? Sie hatte sich fast genau so verhalten, wie Clark Russell es ihr geraten hatte. Sie war weit weggelaufen, hatte nie ihre Kreditkarten benutzt, war nie lange an einem Ort geblieben und hatte keinen Kontakt mit zu Hause aufgenommen. In Louisville hatte sie sogar ihr Auto umspritzen lassen. Clark hatte ihr auch geraten, ihren Namen zu ändern und
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