Alchemie der Unsterblichkeit
Anteile Sägemehl im Brot nicht vertragen. Das Schwächegefühl, das nicht allein vom Entzug des Laudanums herrührte, zwang ihn aber aufzustehen und in den mit Sägespänen ausgestreuten Schankraum hinunterzugehen. Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen, und Holzfäller, Glasbläser und Tagelöhner strömten hinein. Alle trugen Narben von verschiedenen Brandverletzungen. Einigen von ihnen fehlten mehrere Finger. Bei einem Mann musste Icherios sich zwingen, ihn nicht geradeheraus anzustarren. Eine seiner Gesichtshälften war vollkommen verbrannt, sein rechtes Auge vernäht und seine Nase ein unförmiger Klumpen. Sein schütteres, schwarzes Haar hatte er über die versehrte Seite gekämmt, wodurch seine Züge noch schiefer wirkten. Arohn löffelte bereits eine dünne Suppe aus Gras und Möhren, wobei er am gefürchteten Brot kaute. Icherios setzte sich zu ihm. Der Kutscher war für ihn die letzte Verbindung zu seiner Heimat und gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er spürte, wie die Blicke der anderen Männer ihn argwöhnisch verfolgten.
Nachdem ihm der Gastwirt ebenfalls eine Schale Brühe serviert hatte, wandte sich Arohn an ihn. »Ich hoffe für Euch, dass Euer neuer Kutscher bald eintrifft.«
Icherios verschluckte sich und fing an zu husten. »Neuer Kutscher?«
»Kennt Ihr Eure Reiseroute etwa nicht?«
»Offensichtlich wurde ich nicht ausreichend informiert.«
»Ihr werdet hier von einer Kutsche abgeholt, die Euch an Euer Ziel bringt.«
»Könnt Ihr mich nicht fahren?« Icherios behagte der Gedanke nicht, an eine fremde Person ausgeliefert zu werden. Notfalls würde er Arohn bezahlen und einen guten Vorwand für die Kanzlei erfinden.
»Tut mir leid, Herr, aber für nichts in der Welt würde ich in das Dunkle Territorium fahren. Zudem warten in Baden die Menschen auf ihre Post.«
Icherios zuckte zusammen. »Dunkles Territorium?«
»Das ist nur ein Name. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
»Und trotzdem wollt Ihr mich nicht fahren?«
Arohn stand auf, den Blick starr auf seine leere Schüssel gerichtet. »Tut mir leid, Herr. Es ist spät, und meine alten Knochen brauchen Ruhe. Lebt wohl.«
Icherios blickte ihm hinterher, während die Suppe erkaltete. Dann weckten die Gesprächsfetzen, die von einem Tisch mit einer Gruppe Holzfäller zu ihm herüberdrangen, seine Aufmerksamkeit. Ein Bär von einem Mann mit braunem Vollbart sprach in einem so tiefen Bass, dass die Tische zu beben schienen. »Im Dunklen Territorium soll es gutes Essen und reichlich Arbeit für mutige Männer geben.«
Ein schmalerer, aber großer, blonder Mann fiel ihm ins Wort. »Du meinst wohl eher lebensmüde.«
»Ich bin das Hungern leid. Ich ertrage den Anblick meiner Kinder nicht, wenn sie sich von Hunger gequält in den Schlaf weinen.«
»Aber wenn du mit ihnen ins Dunkle Territorium ziehst, kannst du ihnen auch gleich die Axt in den Rücken stecken.«
Ein rotbärtiger Mann, der ein Bruder des Wirtes sein könnte, schlug donnernd auf den Tisch. »Niemand müsste hungern, wenn die Weizenpreise nicht so hoch wären.«
»Was bringen uns niedrigere Getreidepreise, solange unsere Löhne sinken?«
»Früher bekam ich ein Brot für zwei Groschen. Heute muss ich für diesen Dreck zwölf zahlen!« Der Rothaarige wedelte zornig mit einem Brotkanten. »Wie soll man da eine Familie ernähren?«
»Und dem Rest von uns lassen sie nicht einmal den Branntwein. Die Adligen sind doch allesamt Halsabschneider«, nölte der Blonde.
Der Schwarzbärtige fuhr wütend fort. »Sie sollten aus Getreide Brot machen anstatt diesen Fusel!«
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein breiter, kantiger Mann betrat den Raum. Icherios warf an ihm vorbei einen Blick nach draußen. Die Sonne musste vor einer Stunde untergegangen sein. Die Dunkelheit schien bereits undurchdringlich.
Ein Raunen ging durch den Gastraum. Einer der Holzfäller wisperte leise. »Einer aus dem Dunklen Territorium. Schaut ihm nicht in die Augen, oder er stiehlt euch die Seele.«
Der Neuankömmling schlenderte zum Wirt hinüber. Nach einem kurzen Wortwechsel zeigte dieser mit gesenktem Kopf auf Icherios. In diesem Moment wünschte der junge Gelehrte sich, oben im Bett zu liegen und nicht die schweren Schritte des Mannes näher kommen zu hören. »Renfin Zwölffinger. Ich nehme an, Sie sind mein Fahrgast.«
Icherios starrte auf die Hände des Mannes. Er hatte tatsächlich zwölf Finger! Ohne den Namen wäre Icherios diese Besonderheit allerdings nicht aufgefallen. Die
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