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Alchemie der Unsterblichkeit

Alchemie der Unsterblichkeit

Titel: Alchemie der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Pflieger
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1
    Die Kanzelley
    G
    Karlsruhe, 4. Septembris
Anno Domini 1771
    Darum werden ihre Plagen auf einen Tag kommen: Tod, Leid und Hunger; mit Feuer wird sie verbrannt werden; denn stark ist Gott der Herr, der sie richten wird.« Der Prediger, dessen gramgebeugter Körper an einen krummen Weinstock erinnerte, schrie die Worte geradezu mit Inbrunst hinaus.
    Gott wird euch nicht retten! Niemand wird uns retten. Icherios stand, geschützt vom Regen, dicht an eine Hauswand gepresst und beobachtete eine kleine Gruppe halbverhungerter Menschen, die den selbsternannten Verkünder umringten. Sie saßen zusammengekauert auf dem nassen Pflaster. Unter ihren Lumpen sah man die Knochen hervorstehen. In ihren Augen leuchtete fanatischer Wahnsinn auf, hervorgerufen durch viele Monate des Leidens. Auf der anderen Straßenseite, im Windschatten des großen Regierungsgebäudes, wühlte eine Schar magerer Kinder auf der Suche nach einer Münze im Schlamm. Der tagelange Regen hatte die Erde von den unbefestigten Nebenstraßen auf die Schlossgasse gespült. Immer wieder spähten die Kleinen zu einem großen dunkel gekleideten Mann hinüber, dessen Haut in schlaffen Falten herunterhing. Sie wussten, wo er auftauchte, gab es Ärger. Schon jetzt hatte sich seine Anhängerschaft um ihn geschart. Wütende Schreie gellten in Richtung des Predigers. Icherios presste sich dichter an die Mauer. Zweifelnd blickte er auf den Fetzen Pergament in seinen Händen. Darauf befand sich in krakeligen Lettern die Anschrift der Kanzelley zur Inspektion unnatürlicher Begebenheiten . Die Adresse führte zu dem schlichten Haus vor dessen Tür der Prediger von der ewigen Verdammnis sprach. Kein Schild deutete auf die Existenz der Kanzlei hin. Das Gebäude war unscheinbar mit Ausnahme der großen Bleiglasfenster, die sowohl von innen als auch von außen durch dicke Gitterstäbe geschützt wurden.
    »Mein Sohn starb gestern wimmernd vor Hunger!« Ein Mann, dessen einziger Zahnstummel aus dem Mund hervorstach, packte den Prediger an der Schulter und riss ihn herum. »Wie kann Gott zulassen, dass Kinder sterben?«
    »Gottes Wille ist unergründlich. Die Nachkommen büßen für die Sünden ihrer Eltern. Bettel um seine Gnade!«
    Dann brach der Tumult los. Ein Jüngling warf sich auf einen Greis und schlug ihm die Fäuste ins Gesicht. Immer mehr Menschen strömten herbei, feuerten die Kämpfenden an oder stürzten sich ins Getümmel, um ihrer Frustration in blanker Gewalt Ausdruck zu verleihen. Icherios versuchte sich unbemerkt zum Eingang der Kanzlei zu schieben. Er stieg über zwei Männer hinweg, die bewusstlos an der Hauswand lehnten. Dann musste er innehalten, da sich die Schlägerei vor die Tür verlagerte. Wenige Minuten später eilte die Stadtwache heran und trennte die ineinander verschlungenen Leiber mit geübten Griffen. Zu oft waren sie in letzter Zeit schon ausgerückt, um Ausschreitungen zu unterbinden. Die Stadtverwaltung zwang sie, Exempel zu statuieren, obwohl die Soldaten unter den meuternden Menschen immer wieder ihre hungernden Nachbarn und Familien wiederfanden. Dieses Mal ließ sich der Mob allerdings nicht so leicht unter Kontrolle bringen. Schnell verbündeten sich die ehemals aufeinander einschlagenden Männer gegen die Vertreter der verhassten Obrigkeit. Der Aufruhr verlagerte sich zur nahegelegenen Kreuzung, sodass Icherios sich aus seiner Ecke heraustraute. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn, als er den mächtigen Türklopfer in Form eines Basiliskenschädels betrachtete. Was verbarg sich im Inneren des Gebäudes, dass es mit schweren Eisenstangen gesichert werden musste? Er sammelte sich, dann klopfte er an. Kurze Zeit später schwang die Tür geräuschlos auf. Es dauerte einige Sekunden bis Icherios im Halbdunkeln einen alten, gebeugten Mann erkannte, den die massive Tür zur Hälfte verdeckte. Seine weiß gelockte Perücke saß schief auf dem kahlen Schädel. Puderflecken hatten ein Muster auf die Schultern seiner dunklen Weste gesprenkelt. Aus blassblauen, nahezu glasigen Augen starrte er Icherios stumm an.
    »Raban von Helmstatt schickt mich, Herr.« Icherios verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
    Unvermittelt hellten sich die Gesichtszüge des Alten auf. »Anselm von Freyberg, Chronist der Kanzlei.«
    Icherios verbeugte sich, wobei sein fast drei Fuß hoher, zylinderförmiger Kastorhut vom Kopf rutschte. Im Versuch den Hut aufzufangen, bevor er auf das dreckige Pflaster fiel, stolperte Icherios und stürzte beinahe

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