Alchemie der Unsterblichkeit
das flackernde Licht der Lampen blieb. Die Dunkelheit griff mit eisigen Klauen nach dem jungen Gelehrten, drang in sein Fleisch und jagte frostige Schauer seine Wirbelsäule hinunter. Icherios schien es weit länger zu dauern als nur zehn Minuten. Bei jedem Flackern der Laterne zuckte er zusammen. Bilder, wie er für immer im Dunklen durch ein unendliches Labyrinth kroch, quälten ihn. Endlich kündete ein heller Schimmer vom nahen Ende der Finsternis. Icherios schritt zügig darauf zu. Plötzlich schob sich eine Gestalt vor den Eingang und raubte die Helligkeit. Sie musste riesig sein. Er wollte Renfin noch warnen, doch da war das Wesen schon verschwunden. Zurück im Sonnenlicht atmete Icherios auf. Die Pferde streckten der Sonne ihre Köpfe entgegen, als wollten sie ihre Leuchtkraft in sich aufnehmen.
Bis zum Abend studierte Icherios seine Aufzeichnungen und las Rabans Brief wieder und wieder, bis er ihn auswendig aufsagen konnte. Aber selbst dann hörte er nicht auf. Er hoffte, einen versteckten Hinweis zu finden.
Bei Einbruch der Dämmerung erreichten sie die Steigenwacht. Es handelte sich um eine in den Fels geschlagene Burg, die den Pass zwischen der Dunkeltracht und dem Schwarzschnee bewachte – den zwei höchsten Bergen dieser Gegend, um deren kahle Gipfel Raubvögel in den Aufwinden kreisten. Die Ruine eines ehemals hohen Turmes ragte über die mächtige Burgmauer empor. Renfin klopfte gegen ein großes, metallbeschlagenes Eisentor, in dessen Mitte eine kleine Tür mit Sehschlitz eingelassen war. »Steigmeyer, ehre den Pakt! Lass uns ein!«
Mit einem Quietschen öffnete sich der Schlitz. »Wer verlangt Einlass?« Die Stimme klang genauso rostig und staubig wie die Überreste der Feste aussahen.
»Bist du schon so blind und taub, dass du mich nicht mehr erkennst, alter Mann?«
»Der Pakt. Beweise, dass der Pakt geehrt wird. Zeig mir deine Haare und die deines Gefährten. Alt mag ich sein, aber noch kann ich das Schnaufen eines Flachländers hören.«
Renfin winkte Icherios herbei. Dann beugte er sich so weit vor, dass sein Haarschopf genau vor den Augen des Steigmeyers war. Eine runzelige Hand fuhr heraus, wühlte in den Haaren und riss anschließend ein Büschel heraus. Der Kutscher zuckte zusammen, beschwerte sich aber nicht.
»Jetzt Sie.« Renfin machte Platz vor dem Tor.
Icherios verspürte keine Lust, sich von einem greisen Kauz rupfen zu lassen. »Wieso ist das notwendig?«
»Weil ich es sage, Jungchen.« Die Hand des Steigmeyers fuchtelte ungeduldig in der Luft herum.
Renfin schubste ihn vor. »Wir brauchen eine Unterkunft für die Nacht. Los!«
Icherios fühlte sich lächerlich, als er den Kopf hinhielt und der Alte ihm einen Büschel Haare ausriss.
»Wartet hier.« Der Steigmeyer lachte. »Nicht, dass Ihr eine andere Wahl hättet.«
Sobald sich die Schritte schlurfend entfernt hatten, fuhr Renfin Icherios an. »Ich sagte, Sie sollen meinen Anweisungen ohne Widerspruch Folge leisten!«
»Was soll das denn mit den Haaren?«
»Er glaubt daran erkennen zu können, ob wir Werwölfe oder Vampire sind.«
»Ist er geistig verwirrt?«
»Mit Sicherheit, aber nicht so, wie Ihr denkt. Die Einsamkeit war schon immer der größte Feind des Menschen.«
»Er lebt alleine hier?« Icherios schauderte. Er vermochte sich nicht auszumalen, was es bedeutete ohne Gesellschaft in einer alten Ruine zu hausen.
»Ja, er bietet den einzigen Unterschlupf in mehreren Wegstunden Entfernung. Wenn er unsere Haare prüfen möchte, ist das ein geringer Preis für eine Nacht im Schutz der Feste.«
Icherios schämte sich für seinen Widerstand. Die Welt hier draußen erschien ihm fremd, die Denkweise der Menschen so anders.
Dann endlich öffnete sich das Tor. Renfin sprang behände zur Kutsche und führte die angesichts des nahen Stalls unruhigen Pferde hinein. Icherios folgte ihm zögerlich. Das Innere der Steigenwacht bestand aus einem großen Hof, aus dem die Ruine des Turmes hervorragte. Auf der gegenüberliegenden Seite waren verschiedene Gebäude in den Stein geschlagen worden. Ein strenger Duft nach Tier überlagerte den Geruch von Blut und rohem Fleisch. Den Boden bedeckten große, quadratische Platten, auf denen sich der Dreck von Jahrzehnten zu häufen schien. In den Fugen wuchsen üppige Wildkräuter. Entlang der gesamten Mauer standen mit Wasser gefüllte Eimer. Über jedem hing ein Kreuz. Auch die Gebäude zierten die unterschiedlichsten Arten von Kreuzen. Manche waren direkt in den Stein gekratzt
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