Alchemie der Unsterblichkeit
sich einer prunkvoll verzierten Kutsche. Ihre Worte gingen im Lärm der Stadt unter; ihre Arme streckten sich flehend empor. Die Geste erregte bei dem grobschlächtigen Kutscher kein Mitleid. Drohend hob er die Peitsche. Sie fiel auf die Knie und brach in Tränen aus. Der Kutscher holte aus und knallte mit der Peitsche dicht über ihrem Kopf. Erschrocken stürzte die Frau in eine Pfütze, die Arme schützend um das Kind gelegt. Ein gut gekleideter Mann eilte, ohne sie eines Blickes zu würdigen, an ihr vorbei und stieg in das Gefährt. Der Fahrer spuckte neben der Frau aus, bevor er die Pferde anspornte. Ein Schwall Wasser ergoss sich über Mutter und Kind, als die Kutsche vorbeirollte. Icherios tastete in seiner Tasche nach seinem letzten Gulden. Sein Vermieter wartete zwar ungeduldig auf seine Miete, und Icherios knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass er seit Tagen schon keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte. Doch ein Blick auf die am Boden liegende, schluchzende Frau vertrieb jegliche Zweifel. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und half ihr auf die Beine. Sobald sie stand, drückte er ihr die Münze in die Hand. Ihre Augen weiteten sich, und das Leuchten in ihren grauen Tiefen ließ ihre einstige Schönheit erahnen. Dankbar fiel sie vor ihm auf die Knie und küsste seine Füße. Verlegen löste sich Icherios, nickte ihr zu und entfernte sich hastig. Sein knurrender Magen und Meister Irgrim, sein Vermieter, würden ihn die Tat noch früh genug bereuen lassen. Wenigstens besaß er den Beutel Gold von der Kanzlei, mit dem er die nächsten Tage seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Icherios wohnte in einem der äußeren Ringe, die um das Karlsruher Schloss führten. In einer Gasse, die von der Amalienstraße abzweigte, stand das Haus des übellaunigen Schreiners Irgrim. Dort nannte Icherios eine Kellerwohnung sein Eigen, zumindest solange er die Miete bezahlte. Die Haustür aus dünnem Birkenholz öffnete sich unter lautem Knarren. Für sein Heim und seine Familie war der Schreiner nicht bereit viel auszugeben. Deshalb trugen seine Töchter die abgelegten Kleider ihrer älteren Schwestern auf, während er selbst sich in edles Tuch hüllte. Icherios zuckte zusammen. Von oben dröhnte die polternde Stimme seines Vermieters. »Ceihn, meine Miete!«
Hastig stürzte Icherios in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Es würde eine Weile dauern, bis Meister Irgrim seinen feisten Leib die Treppe hinuntergewuchtet hatte. Icherios’ Finger tasteten nach dem Beutel mit den Münzen. Die Gulden verführten ihn. Wem würde ein weiterer Posten auf seiner Abrechnung schon auffallen? Dann besann er sich. Seine Ehrlichkeit würde er nicht aufgeben.
Bei Icherios’ Wohnung handelte es sich um einen großen Raum, in dem es nach Schwefel und verrottendem Papier roch. Draußen regnete es wieder. Wasser lief durch das einzige Kellerfenster. Auf Tischen und Stühlen stapelten sich Bücher und alchemistische Geräte. Ein Athanor, ein spezieller Ofen für Alchemisten, stand in einer Ecke. Der Holzstapel neben der Feuerstelle war erbärmlich niedrig. Wann immer Icherios auszog, um Holz zu kaufen, endete er mit einem Buch in der Hand. In dem ramponierten Sessel vor dem Kamin wartete die nächste unangenehme Überraschung auf ihn: sein Vater. Donak Ceihn hatte, um sich Platz zu schaffen, Bücher und Aufzeichnungen achtlos auf den Boden geworfen, wo sie sich mit Wasser vollsogen. Icherios sah seinem Erzeuger so unähnlich, dass er in seiner Kindheit ständig als Kuckuckskind gehänselt worden war. Von kleiner, stämmiger Statur mit fleischigen Wangen, donnerte Donak Ceihn unbeherrscht und unaufhaltsam wie eine Walze durchs Leben. Icherios’ Sturheit veranlasste ihn aufzubegehren und die Flucht zu ergreifen. Er wollte nicht wie seine Brüder ohne eigene Meinung und Willen enden. Mit einem hämischen Grinsen wedelte sein Vater mit einem Brief. »Hoffst du immer noch auf einen Studienplatz für Medizin?«
Zornig entriss Icherios ihm das Papier und schluckte eine böse Bemerkung hinunter. Das Siegel war geöffnet.
»Sie haben dich natürlich nicht genommen.«
Die ersten Zeilen bestätigten diese Behauptung. Beherrscht legte Icherios den Brief auf einen Tisch. Es wäre ein Fehler, seinem Vater seine Enttäuschung zu zeigen. Dieser verstand sich nämlich darauf, jede Art von Gefühl als Waffe zu verwenden. Icherios musste schlucken. Seit Jahren bewarb er sich um ein Stipendium für ein Medizinstudium. Immer wieder
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