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Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel

Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel

Titel: Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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ganzen medizinischen Ausbildung hatte er nur vier Sektionen mit angesehen; der christliche Papst hatte dem massiven Druck weltlicher Stellen nachgegeben und widerwillig gestattet, daß jede medizinische Fakultät eine Sektion im Jahr durchführte, und dafür das offizielle kirchliche Verbot solcher Vorgehensweisen aufgehoben. Bei diesem schrecklichen jährlichen Ereignis pflegte sich die gesamte Studentenschaft auf einem offenen Platz zu versammeln, um zuzusehen, wie ein Bader-Chirurg den Kadaver öffnete und dann im Laufe von drei Tagen Stück für Stück auseinandernahm. Verweste Organe wurden den Studenten zu näherer Betrachtung und eingehendem Studium dargeboten, während der Professor sich in sicherer Entfernung hielt und Dinge beschrieb, die er nicht mit eigenen Augen sehen konnte. Die Professoren pflegten Galen zu zitieren, dessen geschriebenes Wort für die Medizin das war, was die heilige Thora den Juden bedeutete, und damit Informationen weiterzugeben, die häufig falsch waren, wie Alejandro später entdeckte, denn das, was sie da lehrten, war vor vielen Jahrhunderten geschrieben worden. Wir haben seither soviel gelernt, dachte er immer, wenn er die Vorgänge beobachtete; sicher könnten wir Besseres leisten ! Er wollte die Wahrheit über den menschlichen Körper wissen, und er wollte ihn selbst aus größerer Nähe sehen, um aufgrund eigener Beobachtungen eigene Schlüsse zu ziehen. Dies, so wußte er, war die einzige Art, wie er bekommen konnte, was er wollte. Er würde sich sein Wissen stehlen müssen, wenn keiner zuschaute.
    Alejandro sammelte seine Werkzeuge. Er wünschte sich, ein noch besseres als das feine Messer zu haben, das er besaß; er verfluchte auch seinen Mangel an Zeit, denn er hätte gern soviel wie möglich von dem Kadaver untersucht. Er weckte seinen Lehrling, und zusammen nahmen sie ein leichtes Mahl aus Brot und Käse zu sich, bevor die Arbeit ihnen jeden Wunsch nach Essen vergehen ließ.
    Er sah sich die Wunde des Jungen noch einmal an, und wie erwartet hatte sie zu eitern begonnen. Aber der Junge würde genug leisten können, um von einigem Wert zu sein; er hatte auch kaum eine Wahl, wenn sie die notwendigen Fortschritte machen wollten. Alejandro träufelte nochmals einen Tropfen Nelkenöl auf die Wunde, und sie bereiteten sich darauf vor, den Leichnam zu sezieren.
    Sie banden sich mit aromatischen Kräutern gefüllte Tuchmasken über Mund und Nase, um den unvermeidlichen Punkt hinauszuzögern, an dem sie ihre Arbeit aufgeben mußten, weil der Geruch sie überwältigte. Sie entfernten sorgfältig das Heu und legten es für die Rückfahrt zum Friedhof beiseite. Dann hoben sie den Leichnam an den rohen Tuchstreifen an und trugen ihn in den Operationsraum. Da die Fensterläden zum Schutz vor neugierigen Augen bereits geschlossen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als Fackeln anzuzünden, um Licht zum Arbeiten zu haben, was die ohnehin kaum erträgliche Hitze rasch noch steigerte. Nachdem sie die Überreste von Carlos Alderon auf den Tisch gelegt hatten, entfernten sie vorsichtig die Leichentücher und hoben sie auf, um den Leichnam später wieder darin einzuhüllen.
    Die Leiche, schon beim Begräbnis verschrumpelt und abgemagert, war jetzt wie ein Skelett; das, was vom Fleisch noch übriggeblieben war, hatte die Farbe eines Fischbauches. Die knorrigen Finger und Zehen waren fest gekrümmt, als umklammerten sie kostbare Juwelen, und durch die dünne Haut konnte man beinahe die Knochen sehen. Es war gräßlich, und Alejandro konnte nicht ganz verhindern, daß ihm übel wurde. Ätzende Galle stieg ihm in die Kehle, und er mußte den Kopf abwenden und atmen, ehe sein Magen wieder zur Ruhe kam. Doch trotz der Hitze, des Gestanks und der Angst in seinen Eingeweiden konnte der junge Arzt seine Erregung kaum unterdrücken. Die Tiefe seiner morbiden Faszination durch dieses tote Ding, das keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen hatte, erstaunte ihn, und seine gottlose Begierde, es zu sezieren, verstörte ihn.
    Er machte einen langen senkrechten Schnitt in die Brustmitte des Leichnams. Am oberen und unteren Ende dieses Einschnitts setzte er noch zwei waagerechte Schnitte. Dann klappte er die Lappen aus Haut und Muskeln zur Seite und legte den Brustkorb frei. Dankbar, daß seine Arbeit nicht von dem Blut behindert wurde, das nach solchen Schnitten aus einem lebendigen Körper geflossen wäre (aber ach, dachte er, was würde ich für die Erfahrung geben, wenn sie schmerzlos möglich

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