Alexa, die Amazone – Die große Chance
stehen sie, ein paar Meter vor dem tödlichen Draht, schwer atmend und schweißbedeckt im rötlichen Abendlicht.
Alexa lässt die Arme sinken und fühlt sich völlig erschlagen. Sie greiftnach ihren schmerzenden Bizeps und den verkrampften Schultern. Nevada steht laut hechelnd neben Chicolo. Speichel rinnt von seiner langen, weit heraushängenden Zunge. Mit leicht geröteten Augen schaut er zu Chicolo hin, dessen Adern und Sehnen unter dem schweißglänzenden Fell deutlich heraustreten. Alexa sitzt benommen auf dem Hengst. Sie hat das Gefühl absoluter Leere und ist zu fertig, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sie schaut den Stacheldraht an und ihr wird kalt unter dem nassen T-Shirt. Das muss ein Schutzengel gewesen sein, denkt sie, oder sogar zwei.
Nevada steht noch immer wie angewurzelt da und auch Chicolo hat sich nicht gerührt. Alexa gibt das Zeichen zum Anreiten. Mit lockeren Zügeln lässt sie Chicolo den Weg suchen. Sie hat keine Lust mehr. Und sie hat auch ein schlechtes Gewissen. Was habe ich da bloß für einen Mist gebaut, sagt sie sich und verzieht das Gesicht. Wenn sie darüber nachdenkt, was alles hätte passieren können – es war reines Glück, dass sie nicht in den Stacheldraht hineingerast sind. Sie könnten jetzt schwer verletzt dort liegen und ob sie jemand rechtzeitig gefunden hätte, ist auch mehr als fraglich.
Ganz so toll findet sie ihren ersten Arbeitstag nun nicht mehr. Onkel Kurt vertraut ihr, sie hat die alleinige Verantwortung für die Pferde, und was hat sie getan? Sie hat versagt. Ein unbestimmtes maues Gefühl bohrt in ihr. Sie fühlt sich nicht nur schlecht, sondern richtig mies. Ein solches Husarenstück darf nie mehr passieren, schwört sie sich. Im Schritt kommen sie nach etwa einer Stunde auf die lange Wiese, die zum Stall führt. In der Zwischenzeit ist es fast dunkel geworden. Alexa sieht aber doch, wie Chicolos Ohren schon wieder unternehmungslustig zu spielen beginnen.
Eine halbe Stunde später ist Ruhe im Stall eingekehrt. Urban hat gefüttert und ist dann gegangen, Alexa hat noch einige Äpfel dazugelegt und sitzt jetzt, wie schon am Vortag, auf Chicolos Boxentür. Nachdenklichschaut sie ihm zu, wie er das frische Fruchtfleisch zwischen seinen Backenzähnen zerreibt. Sie hängt noch ein bisschen ihren Gedanken nach, fragt sich, ob sie sich nicht doch etwas zu viel zugemutet hat, ob sie ihre Aufgaben hier überhaupt alle bewältigen kann. Vielleicht fehlt ihr eben doch die Erfahrung, mit der sie in ihrem Brief an Onkel Kurt so geprahlt hatte. Jetzt kommt der Bumerang zurück!
Sie atmet tief durch. Der Duft, der in der Luft liegt, beruhigt ihre Nerven. Sie liebt diese Mischung aus Äpfeln und Mash und Heu und Leder, durchsetzt vom Geruch der Pferde.
Da donnert ein Schlag durch den Stall. Mit einem kräftigen Tritt gegen die Bretterwand wendet sich Amparo von ihrem Boxennachbarn Gerando ab und dreht sich jetzt in Richtung Lucifer, der sich auch sogleich lebhaft um sie bemüht.
Die Szene wischt Alexas düstere Gedanken beiseite, sie muss lachen.
»Merkt ihr denn nicht, dass sie euch gegeneinander ausspielt?«
»Eben typisch Frau!«
Alexa fährt herum. Von ihr unbemerkt, ist Flavio eingetreten, Nevada an seiner Seite.
»Mein Vater würde gern mit dir zu Abend essen. Außerdem ist er sehr gespannt, ob dein erster Tag gut gelaufen ist.«
»Das müsstest du doch am besten wissen. Schließlich hast du doch den Hund rausgelassen, als ich auf Simone saß.«
»Ja, und?«
»Du hast sicherlich gewusst, was du da tust!«
Flavios Gesicht wirkt im violetten Licht gespenstisch. Sein weißes Polohemd leuchtet und seine Zähne blitzen auf, als er schallend zu lachen beginnt.
»Du willst damit aber nicht sagen, dass ich für deinen Sturz verantwortlich bin. Nevada ist ein freier Hund, der tun und lassen kann, was er will. Wärst du doch einfach sitzen geblieben!«
»Danke für den guten Rat!«
»Was ist jetzt? Willst du meinen Vater noch lange warten lassen?«
Wortlos verlassen die beiden nebeneinander den Stall. Alexa verschließt sorgfältig die Stalltür, während Flavio mit Nevada schon vorausgeht.
Sauberes Pärchen, denkt Alexa. Das kann ja noch heiter werden.
Kurt lacht herzhaft über Alexas Schilderungen. Sie erzählt jede Einzelheit – auch von ihrem Sturz von Simone. Flavio soll bloß nicht glauben, sie würde sich dessen schämen. Ihr Erlebnis mit Chicolo allerdings verschweigt sie. Dafür schämt sie sich nun wirklich und ein klein bisschen befürchtet
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